Tz. 45

§ 264 Abs. 2 Satz 1 HGB besagt, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermitteln soll. Gelingt das nicht durch Auslegung und Anwendung der §§ 242277 HGB, sind gem. § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB im Anhang zusätzliche Angaben zu machen. Schwierigkeiten bestehen bereits bei der Frage, wie das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild zu ermitteln ist. Grundsätzlich soll ein objektiver Maßstab genügen.[78] Entspricht der Jahresabschluss den GoB, gibt es zumindest eine Vermutung, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild abgibt.[79] § 264 Abs. 2 Satz 4 HGB führt nicht zur gegenteiligen Lösung, sondern erzwingt einen erst-recht-Schluss. Bereits bei Kleinstkapitalgesellschaften wird vermutet, dass die Darstellung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild ergibt, obwohl nur das Zahlenmaterial von Bilanz und GuV ohne die Erläuterungen des Anhangs verwendet wird. Dann muss erst recht die Vermutung der Richtigkeit vorliegen, wenn bei Bilanzierung den GoB entsprochen wird und das Zahlenmaterial gem. §§ 284 ff. HGB im Anhang erläutert wird. Aus den Prinzipien zur Erteilung des uneingeschränkten oder eingeschränkten Bestätigungsvermerks (§ 322 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 HGB) ergibt sich auch nichts Gegenteiliges.

 

Tz. 46

Zur praktisch vernünftigen Handhabung sollten die folgenden Prämissen gelten:

  • Werden die GoB beachtet, kann der Abschlussprüfer den uneingeschränkten Bestätigungsvermerk nicht unter Berufung auf eine unzutreffende Vermittlung der tatsächlichen Verhältnisse verweigern. Ebenso sind jegliche Haftungsansprüche gegen den Abschlussprüfer in diesem Fall ausgeschlossen. Dadurch wird vermieden, dass ein übervorsichtiger Abschlussprüfer trotz Beachtung der GoB nur eingeschränkt bestätigen will.
  • Werden die GoB beachtet, ist es Sache allein des Geschäftsleiters der bilanzierungspflichtigen Gesellschaft, ggf. zusätzliche Anhangangaben zu erstellen. Kommt es zu Haftungsfragen, spricht aber die Vermutung bei Beachtung der GoB dafür, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Umständen entsprechendes Bild vermittelt.
  • Werden die GoB nicht beachtet, liegt die Beweislast für die Vermittlung der tatsächlichen Verhältnisse bei den Geschäftsleitern der bilanzierungspflichtigen Gesellschaft. Der Abschlussprüfer hat in diesen Fällen selbstständig diesen Umstand zu prüfen und muss ggf. den eingeschränkten Bestätigungsvermerk gem. § 322 Abs. 4 HGB verweigern.
[78] Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 62; Winkeljohann/Schellhorn, in: BeckBilKo, § 264 HGB Rn. 42.
[79] Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 63; Winkeljohann/Schellhorn, in: BeckBilKo, § 264 HGB Rn. 43.

bb1) Tatsächliche Verhältnisse

 

Tz. 47

Das Gesetz bedient sich mit "tatsächliche Verhältnisse" eines unbestimmten Rechtsbegriffs, für den weder Interpretationsmaterial noch Regelbeispiele existieren. Jeder Unternehmer und Investor wird die Verhältnisse anders beurteilen. Ein Investment ist ja gerade dann lohnend, wenn die Mehrheit von einer Investition absieht und nur der einzelne Investor bzw. Unternehmer die Verhältnisse als positiv beurteilt (und damit am Ende auch Erfolg hat). Daher kann es für "tatsächliche Verhältnisse" nicht per se auf Zeitwerte ankommen. Andernfalls müssten stille Reserven durch Anhangangaben immer offengelegt werden. Das deutsche Handelsbilanzrecht ist gerade vom Vorsichts- und Realisationsprinzip geprägt, sodass stille Zwangsreserven gerade nicht den tatsächlichen Verhältnissen widersprechen. Daher kann die bloße Befolgung der GoB bei der Rechnungslegung nicht dazu führen, dass ein von den tatsächlichen Verhältnissen abweichendes Bild entsteht.[80] So muss insbesondere beim Wertanstieg von Beteiligungen, verbundenen Unternehmen oder Grundstücken nicht auf die zusätzlichen stillen Reserven hingewiesen werden.[81] Anders verhält es sich jedoch, wenn das Bilanzbild eine Folge von nicht der geschäftsüblichen Tätigkeit entsprechenden Maßnahmen ist.

[80] I.Erg. auch Hüttemann/Meyer, in: GroßKo-HGB, § 264 HGB Rn. 52.
[81] So auch die h. M. ADS, § 264 HGB Rn. 123; Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 73; Hüttemann/Meyer, in: GroßKo-HGB, § 264 HGB Rn. 54; Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, § 264 HGB Rn. 22; Winkeljohann/Schellhorn, in: BeckBilKo, § 264 HGB Rn. 51; a. A. Lachnit, WPg 1993, 193 (200); wohl auch a. A. Schulze-Osterloh, ZHR 150 (1986), 532 (564).

bb2) Die Wirkung von Verstößen gegen § 264 Abs. 2 HGB

 

Tz. 48

Weil § 264 Abs. 2 HGB ein zutreffendes Bild des Jahresabschlusses erreichen will, wird zum Teil vertreten, dass ein Verstoß zur Nichtigkeit gem. § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG führen kann. Begründet wird dies mit der Gläubigerschutzfunktion von § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB.[82] Die Gegenauffassung verweist auf die fehlende eigenständige Bedeutung der Vorschrift mit ihrer bloßen Funktion, Auslegungsfragen zu klären und Lücken zu schließen.[83] Dieses Problem wird relevant, wenn entweder nicht gegen GoB verstoßen worden ist oder der Verstoß gegen GoB evtl. wegen der Geringfügigkeit (z. B. vergessene Untergliederung) nicht isol...

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