Tz. 30

Es ist umstritten, ob die Vorschrift lediglich eine Generalklausel für den Anhang darstellt (Abkoppelungsthese)[48] oder ob es sich bei § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB um eine Generalklausel für den gesamten Jahresabschluss handelt.[49] Die erste Auffassung verweist auf die Gesetzessystematik, wonach § 264 Abs. 1 HGB besagt, dass der Jahresabschluss bei Kapitalgesellschaften um einen Anhang zu erweitern sei, während im Anschluss § 264 Abs. 2 HGB das Gebot des true and fair view statuiere, welches folglich nur auf den Anhang bezogen sein könne, weil das Gesetz gerade nicht besagt, wie man zu diesem Ergebnis kommen müsse.[50] Zudem wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nicht Wahlrechte einräumen könne, die durch eine Generalklausel wieder beseitigt werden. Außerdem sind Jahresabschlüsse immer Zwischenrechnungen, die auf (der Natur nach ungenauen) Schätzungen und Prognosen beruhen.[51] Letztlich darf die auf Vorsicht beruhende Gewinnermittlung nicht durch andere Maßstäbe wegen der Einbeziehung des true-and-fair-view-Gebots in die GuV und die Bilanz konterkariert werden.[52] Die Gegenauffassung argumentiert mit der Gleichrangigkeit von GuV, Bilanz und Anhang und lehnt die These ab, dass es dem Bilanzierenden überlassen sei, durch welches Element er dem true-and-fair-view-Gebot nachkommt.[53] Die Abkopplungsthese sei folglich nicht mit dem Gesetz zu vereinbaren.[54] Letztlich nähern sich beide Ansichten dahingehend, dass die Gegenauffassung eine Wechselbeziehung zwischen Generalnorm und Einzelvorschriften zwar annimmt, jedoch davon ausgeht, dass die Einzelvorschriften der Bilanzwahrheit weitestgehend entsprechen.[55] Daher soll § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB bei der Regelung besonders gelagerter Fälle herangezogen werden.[56]

 

Tz. 31

Der letztgenannten Sichtweise ist zuzustimmen. § 264 Abs. 2 HGB ist eine Generalklausel, die für alle Elemente des Jahresabschlusses gilt. Zieht man das Prinzip der Bilanzwahrheit zur Auslegung atypischer bzw. gesetzlich nicht geregelter Fälle heran, ergeben sich zutreffende Lösungen, ohne dass Wertungen der Einzelvorschriften untergraben werden müssen. So bleibt es dabei, dass ein Spezialgegenstand zu Anschaffungskosten zu bewerten ist, auch wenn er ausschließlich vom bilanzierenden Unternehmer genutzt werden kann und bei eigener wirtschaftlicher Schwäche oder aufgrund von Marktschwäche nicht an Dritte veräußert werden kann und in diesem Fall exorbitanter Verlust droht. Das Prinzip des true and fair view sollte aber zur Korrektur von Gestaltungsentscheidungen im Bilanzrecht genutzt werden. Gerade der Gewinnausweis bei fehlendem Geschäft am Markt (konzerninterne Transaktionen, sale-and-lease-back-Geschäfte mit Übernahme aller Risiken durch den Leasingnehmer) sollten unter dem Licht des § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB stehen. Unklarheiten bei der Ermittlung der Anschaffungs- und Herstellungskosten können unter Rückgriff auf das Prinzip der Bilanzwahrheit gelöst werden. Bilanzwahrheit bedeutet hier aber nicht, dass zu einem (gutachterlich oder wie auch immer ermittelten) wahren Wert ausgewiesen werden darf, sondern impliziert vielmehr die Fortführung bisheriger Anschaffungskosten, weil gerade keine Gewinnrealisation am Markt stattgefunden hat.

 

BEISPIEL

§ 24 UmwG gestattet bei einer Verschmelzung ausdrücklich die Buchwertfortführung bei den Vermögensgegenständen des übertragenden Rechtsträgers. Außerdem wird die Neubewertung gestattet, wobei der Gesetzeswortlaut offen lässt, in welchem Umfang neu bewertet werden darf. Führt die Buchwertfortführung zu einem Verschmelzungsverlust, würden die Vertreter der Abkoppelungsthese das hinnehmen und den Verschmelzungsverlust allenfalls im Anhang beim übernehmenden Rechtsträger erläutern. Bei (zutreffender) Einordnung von § 264 Abs. 2 HGB als Generalklausel für alle Elemente des Jahresabschlusses wird man § 24 UmwG für diesen Fall restriktiv interpretieren und eine Neubewertung zumindest insofern als zwingend ansehen müssen, damit kein Verschmelzungsverlust entsteht.

[48] Beisse, in: Döllerer, FS-Döllerer 25 ff.; Knobbe-Keuk, § 3 III 2, 43 f.; Moxter, BB 1978, 1629 f.; ders., in: Förschle/Moxter/Kaiser, FS Budde, 419 ff. (insbesondere 426 ff.); wohl sympathisierend Clemm, in: Förschle/Moxter/Kaiser, FS Budde, 134 (151 ff.).
[49] Streim, Die Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB – Eine kritische Analyse, in: Ballwieser u. a. (Hrsg.), Bilanzrecht und Kapitalmarkt Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Adolf Moxter, Düsseldorf 1994, 391 ff. (insbes. 403).
[50] Beisse, in: Döllerer, FS-Döllerer, 25 (33 f.).
[51] Clemm, in: Förschle/Moxter/Kaiser, FS Budde, 134 (152).
[52] Moxter, in: Förschle/Moxter/Kaiser, FS Budde, 419 (427).
[53] Hüttemann/Meyer, in: GroßKo-HGB, § 264 HGB Rn. 27.
[54] Streim, Die Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB – Eine kritische Analyse, in: Ballwieser u. a. (Hrsg.), Bilanzrecht und Kapitalmarkt Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Adolf Moxter, Düsseldorf 1994, 391 (403).
[55] Hüttemann/Meyer, in: Gro...

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