Tz. 27

Klärungsbedürftig ist, wann Erkennbarkeit i. S. d. subjektiven Fehlerbegriffs vorliegt. Zentral dafür ist, in welchem Zeitpunkt die Erkennbarkeit vorliegen muss, was der Maßstab der Erkennbarkeit ist und auf wessen Kenntnis es ankommt.

1. Zeitpunkt

 

Tz. 28

Umstritten ist, ob es auf den Zeitpunkt der Aufstellung der Bilanz oder den Zeitpunkt ihrer Feststellung ankommt. Die besseren Gründe sprechen dafür, auf den Zeitpunkt abzustellen, in welchem eine rechtlich verbindliche Bilanzierungsentscheidung getroffen wird.[40] Denn vorher ist die Bilanz zwar – jedenfalls in dem hier gewählten Begriffsverständnis – fehlerhaft, sie hat jedoch noch keine rechtliche Wirksamkeit. Diese erlangt sie erst als Bestandteil des Jahresabschlusses. Der Zeitpunkt der rechtlich verbindlichen Bilanzierungsentscheidung ist im Falle der Handelsgesellschaften der Zeitpunkt der Feststellung bzw. Billigung.[41] Einzelkaufleute stellen ihren Jahresabschluss mit ihrer Unterschrift gem. § 245 HGB fest.[42] Nichts anderes ergibt sich, wenn der Abschluss einer Prüfung durch den Abschlussprüfer unterliegt. Stößt der Abschlussprüfer auf einen Fehler, hat er diesen mit den verantwortlichen Personen – Geschäftsleitung, ggf. Aufsichtsorgan – zu erörtern. Sie bleiben trotz der Abschlussprüfung für den Jahresabschluss verantwortlich.[43] Der Kaufmann bzw. im Falle von Gesellschaften das vertretungsberechtigte Organ haben nach Feststellung des Jahresabschlusses – die ganz überwiegend der Abschlussprüfung nachfolgt[44] – diesen gem. § 245 HGB zu unterzeichnen. Die Gegenansicht, die lediglich eine Unterschrift des aufgestellten Abschlusses für erforderlich hält, hat zwar gewisse rechtliche und praktische Vorzüge, insbesondere kann der Kaufmann so die rechtzeitige Aufstellung dokumentieren.[45] Sie vermag aber nicht zu begründen, wie die Abschlussfunktion der Unterschrift erfüllt werden soll, wenn sie bereits bei Aufstellung erfolgt.[46] Dass die Unterschrift unter dem aufgestellten Jahresabschluss fehlt, hindert umgekehrt nicht die Möglichkeit des Abschlussprüfers, ihn zu prüfen.[47] Gerade im Falle prüfungspflichtiger Abschlüsse dokumentiert die Unterschrift des Kaufmanns seine Letztverantwortung[48] für den Jahresabschluss.

[40] Hennrichs/Pöschke, in: MüKo-AktG, § 172 AktG Rn. 76.
[41] Winnefeld, BilanzHdb., Kap. H Rn. 120 ff.
[42] Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, § 245 HGB Rn. 3.
[43] IDW PS 200 Rn. 31, WPg 2000, 706.
[44] § 316 Abs.  1 Satz2 HGB. Eine Ausnahme gilt im Fall der Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung, § 173 Abs.  3 Satz1 AktG.
[45] Hoffmann/Lüdenbach, HGB, § 245 HGB Rn. 14.
[46] OLG Stuttgart, v. 01.07.2009, 20 U 8/08, BeckRS 2009, 18606; ADS, § 245 HGB Rn. 7; Kleindiek, in: MüKo-HGB, § 245 HGB Rn. 6; Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, § 245 HGB Rn. 1; Noodt, in: Bertram u. a., HGB, § 245 HGB Rn. 13.
[48] IDW PS 200 Rn. 31, WPg 2000, 706.

2. Maßstab

 

Tz. 29

Erforderlich ist, dass ein ordentlicher Kaufmann im maßgeblichen Zeitpunkt (Bilanzaufstellung oder Bilanzfeststellung, strittig, siehe zuvor) bei pflichtgemäßer und sorgfältiger Prüfung aller damals verfügbaren Informationen und bei Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten den Fehler hätte erkennen können.[49] Sinngemäß wird damit der Haftungsmaßstab ins Bilanzrecht übertragen, der für die Geschäftsleiterhaftung gem. §§ 43 GmbHG, 93 AktG gilt.[50] Diese Übertragung ist deshalb lediglich sinngemäß und nicht "eins-zu-eins", weil der gesetzliche Auftrag zur Bilanzierung im Gegensatz zu diesen Haftungstatbeständen kein Verschuldenserfordernis kennt; es erhält nur durch den subjektiven Fehlerbegriff Einzug in die Bilanzierung. Auch ist die Geschäftsleiterhaftung eine reine Innenhaftung der Geschäftsleiter gegenüber der Gesellschaft. Soweit das Verschulden im Rahmen von § 43 GmbH und § 93 AktG jedoch von der Kenntnismöglichkeit des Geschäftsleiters abhängt, lässt der Maßstab sich durchaus für die Beurteilung der Kenntnisnahmemöglichkeit des Bilanzieren heranziehen.

 

Tz. 30

Ein zur Bilanzierung verpflichteter Geschäftsleiter hat gem. § 43 GmbHG und § 93 AktG für die Fähigkeiten und Kenntnisse einzustehen, die seine Aufgabe objektiv erfordert. Er kann sich deshalb nicht auf fehlende fachliche Kenntnis berufen.[51] Ist er selber nicht in der Lage, die Situation einzuschätzen, muss er fachlichen Rat hinzuziehen.[52] Man wird insofern –was die Erkennbarkeit betrifft – auf den Maßstab der in § 93 Abs.  1 Satz 2 AktG normierten Business Judgment Rule zurückgreifen können,[53] wonach eine Pflichtverletzung (hier: ein Bilanzierungsfehler) nicht vorliegt, wenn der Geschäftsleiter vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft gehandelt zu haben. Es ist deshalb aus ex ante-Perspektive zu beurteilen, ob der Bilanzierende alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten ausgewertet hat. War das der Fall und war der wahre Sachverhalt, auf dessen Grundlage eine ande...

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