Tz. 16

Schon das Bestimmen, wann ein Verstoß gegen Bilanzierungsvorschriften vorliegt, bereitet Probleme. Zunächst ist an die in der Einleitung vorgenommene Differenzierung zu erinnern: Nicht jede "unrichtige" Bilanzierung führt zu einem Bilanzierungsfehler, vielmehr bedarf es zusätzlich der Voraussetzungen des subjektiven Fehlerbegriffs, um von einem Bilanzierungsfehler sprechen zu können. Mit "unrichtige" Bilanzierung ist hingegen zunächst nur der objektive Verstoß gegen Bilanzierungsvorschriften gemeint, also die Erkenntnis, dass ein Ansatz oder eine konkrete Bewertung ex post nicht den Anforderungen des Gesetzes entspricht. Diese Erkenntnis wird sich typischerweise dann einstellen, wenn ein Gericht später zu einer anderen Rechtsauffassung gelangt als sie der Bilanzierende seiner Bilanzierungsentscheidung zugrunde gelegt hat.

 

Tz. 17

Probleme ergeben sich bei der Bestimmung eines "objektiven" Verstoßes gegen das Gesetz allerdings aus der "Modalstruktur" der jeweiligen Gesetzesnorm. Denn viele Vorschriften enthalten selbst (teils auf Tatbestandsebene, teils auf Rechtsfolgenseite) Einfallstore für subjektive Beurteilungen. Dabei lässt sich zunächst folgendermaßen differenzieren: Auf Rechtsfolgenseite bestehen – wenige – explizite Wahlrechte.

 

BEISPIEL

Hat ein Unternehmen einen selbstgeschaffenen immateriellen Vermögensgegenstand, z. B. eine Software, kann es entscheiden, ob dieser aktiviert werden soll. Denn für diese Art von Vermögensgegenstand beinhaltet § 248 Abs.  2 Satz 1 HGB ein Aktivierungswahlrecht.

Explizite Wahlrechte zeichnen sich dadurch aus, dass der Bilanzierende zwischen zwei Bilanzierungsentscheidungen die Wahl hat:[11] Ein Vermögensgegenstand darf entweder angesetzt werden oder nicht, bestimmte Kosten dürfen entweder einbezogen werden oder nicht (z. B. angemessene Kosten der allgemeinen Verwaltung gem. § 255 Abs.  2 Satz 3 HGB).

 

Tz. 18

Daneben bestehen aber insbesondere auf der Tatbestandsseite zahlreicher Vorschriften der §§ 238 ff. HGB Beurteilungsspielräume, die teilweise ausdrücklich als solche bezeichnet werden.

  • Gem. § 253 Abs.  1 Satz 2 HGB sind Rückstellungen mit den nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung erforderlichen Erfüllungsbetrag anzusetzen. Das Gesetz weist hier dem Kaufmann ausdrücklich die Befugnis zu, die Höhe des Rückstellungsbetrages zu beurteilen. Dabei darf er nicht willkürlich handeln, sondern im Rahmen dessen, was ein Kaufmann als vernünftig ansehen würde. Ein sachlich überzeugender Grund für diese Delegation der Feststellungskompetenz hinsichtlich des "rechtlich Richtigen" an den Kaufmann kann darin gesehen werden, dass er dem Sachverhalt typischerweise am nächsten steht und ihn daher am besten beurteilen kann.[12]
  • Gem. 253 Abs.  3 Satz 1 HGB sind Vermögensgegenstände des Anlagevermögens um planmäßige Abschreibungen zu vermindern. Die Festlegung der planmäßigen Nutzungsdauer ist dem Kaufmann übertragen. Es handelt sich bei der betrieblichen Nutzungsdauer um ein künftiges Ereignis, von dem nicht feststeht, ob es eintreten wird oder nicht. Will man von dem Kaufmann keine hellseherischen Fähigkeiten erwarten, kann er nur eine Prognose abgeben. Im Falle von Prognosen ist allein die Prognosegrundlage überprüfbar, nicht aber das Prognoseergebnis.
  • Für ungewisse Verbindlichkeiten sind gem. § 249 Abs.  1 HGB Rückstellungen zu bilden. Steht der Grund der Inanspruchnahme nicht fest, bedarf es einer Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme. Auch die Beurteilung dieser Wahrscheinlichkeit hat der Kaufmann selbst durchzuführen. Wiederum wird von dem Kaufmann eine Prognose erwartet, deren Ergebnis ex post nicht korrigiert werden darf.
 

Tz. 19

Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kaufmann stets Beurteilungsspielräume hat, die eine Bandbreite richtiger Entscheidungen rechtfertigen.

  • Ob ein Vermögensgegenstand vorliegt, richtet sich nach rechtlichen Gesichtspunkten wie der grundsätzlichen wirtschaftlichen Verwertbarkeit eines Gutes. Zwar handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dieser verlangt aber keine Schätzung des Kaufmanns, sondern lediglich eine Subsumtion.
  • Dasselbe gilt für die Begriffe der Anschaffungs- oder Herstellungskosten.

Die Subsumtion unter diese Begriffe mag mitunter Schwierigkeiten bereiten. Doch handelt es sich um Rechtsfragen, die einer Klärung bedürfen. Mit Döllerer lässt sich sagen, dass "weder der Kaufmann und noch weniger ein Gericht bei schwierigen Fragen des Bilanzrechts nicht auf halben Weg stehenbleiben und resignierend ein Wahlrecht annehmen" dürften.[13] Entgegen teilweise vertretener Auffassung ist deshalb nicht jede Anwendung des Bilanzrechts subjektiv;[14] die Anwendung des Bilanzrechts hat der juristischen Methodik der Rechtsanwendung zu folgen.

 

Tz. 20

Aus der vorstehenden Differenzierung lässt sich zweierlei folgern: Zum einen ist es möglich, zwischen objektiv und subjektiv zu differenzieren, wenn es um die Beurteilung der Richtigkeit der Anwendung von Rechtsvorschriften des Bilanzrechts geht. Ein objektiver Verstoß – hier versta...

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