Tz. 34

Eine gefestigte Rechtsprechung zu dieser Problematik der Wissenszurechnung aufgrund von Organisationspflichtverletzungen besteht bislang nicht. In der Literatur ist das Thema unter dem Stichwort Compliance seit einiger Zeit in der Diskussion,[60] ohne dass sich eine eindeutige Lehre herausgebildet hätte, in welchen Fällen eine Zurechnung von Wissen erfolgt und in welchen nicht. Überhaupt wird das Thema der Organisationspflichten in erster Linie unter dem Blickwinkel der Haftung von Vorstandsmitgliedern und weniger unter jenem der Wissensorganisation und ihrer Folgen diskutiert.[61] Besonderes Tempo hat die Debatte durch ein Urteil des LG München I erlangt, mit dem ein früherer Siemensvorstand in erster Instanz zu Schadensersatz verurteilt wurde, weil er kein hinreichendes Compliance-System eingerichtet hatte, um Schmiergeldverstöße zu verhindern oder aufzudecken.[62] Allerdings drängt sich der Eindruck auf, es läge möglicherweise ein klassischer Rückschaufehler vor, wenn die Kammer ausführt, die Mängel des Compliance-Systems wären für den Vorstand erkennbar gewesen, wenn er die erforderliche Sorgfalt angewendet hätte, da – so die Begründung – andernfalls keine korruptionsverdächtigen Sachverhalte an ihn herangetragen worden wären.

 

Tz. 35

Die allgemeinen Voraussetzungen für eine Wissenszurechnung sind folgendermaßen zu beschreiben:

  1. Es ist festzustellen, ob eine Erwartung des Rechtsverkehrs dahingehend besteht, dass im Unternehmen vorhandene Informationen so organisiert werden, dass sie von der Leitungsebene abgerufen werden können und auch tatsächlich abgerufen werden.[63]
  2. Kann eine solche Erwartung festgestellt werden und ist das Unternehmen dieser Erwartung nicht im erforderlichen Maße nachgekommen, so muss es sich grds. so behandeln lassen, als hätte es die Erwartung erfüllt.[64]

Es geht deshalb bei der Einrichtung möglicher Informationsweiterleitungssysteme für das Unternehmen weniger um die Frage einer Enthaftung als vielmehr darum, Verstöße gegen Rechtsvorschriften von vornherein tatsächlich zu verhindern. Ob in der Folge sich ein Vorstand entlasten kann, weil er für eine hinreichende Organisation gesorgt hat oder ob ihn ein entsprechendes Organisationsverschulden trifft, steht auf einem anderen Blatt. Bestand andererseits faktisch oder rechtlich keine Möglichkeit, die fehlende Information durch eine hinreichende Organisation zu erfassen, muss eine Wissenszurechnung unterbleiben.[65] Dieses Ergebnis beruht auf der These, dass hinsichtlich der Zurechnung von Wissen natürliche Personen und juristische Personen bzw. Personenhandelsgesellschaften nicht unterschiedlich behandelt werden sollten.[66]

[60] Statt vieler zur Diskussion Fleischer, NZG 2014, 321 ff.; Spindler, in: MüKo-AktG, § 91 AktG Rn. 52 ff.
[61] Dazu aber ausführlich Buck-Heeb, in: Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rn. 1 ff.
[62] LG München I, v. 10.12.2013, 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345 ff.; ausführlich dazu Fleischer, NZG 2014, 321 ff. m.w.N.
[64] Buck-Heeb, in: Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rn. 16.
[65] BGH, v. 15.4.1997, XI ZR 105/96, NJW 1007, 1917 ff.; Buck-Heeb, in: Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rn. 36.
[66] Habersack/Foerster, in: GroßKo-AktG, § 78 AktG Rn. 41.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Merkt, Rechnungslegung nach HGB und IFRS (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge