Tz. 193

Die Frage nach dem Zweck von Rechnungslegung und Bilanzrecht ist keineswegs akademischer Natur. Vielmehr ist der Zweck zunächst bedeutsam für die Auslegung bilanzrechtlicher Vorschriften und sodann ebenfalls für die deduktive Gewinnung von GoB.[278] Allerdings spielt der Zweck nicht nur für die Rechtsanwender eine bedeutsame Rolle, sondern er bildet auch eine wichtige Richtschnur für die rechtspolitische Fortentwicklung des Bilanzrechts durch den Gesetzgeber. Die Bestimmung des Zwecks von Rechnungslegung und Bilanzrecht gestaltet sich durchaus komplex. Das liegt zum einen daran, dass sich die Zweckbestimmung im Laufe der Zeit erheblichen Änderungen unterworfen sah. Zum anderen liegt es daran, dass unterschiedliche Normgeber auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene unterschiedliche Vorstellungen vom Zweck der Rechnungslegung und des Bilanzrechts haben. Und schließlich hat die Komplexität der Zweckbestimmung ihren Grund darin, dass die wissenschaftliche Diskussion sowohl in der Ökonomie als auch in der Jurisprudenz bislang keine Einigkeit darin erzielen konnte, wie Rechnungslegungszwecke zu bestimmen und zu strukturieren sind. Abhängig von der zu Grunde liegenden Bilanzauffassung werden verschiedene Zwecke genannt, weshalb sowohl die Zahl der Zwecke als auch das Gewicht der einzelnen Zwecke Gegenstand heftiger Kontroversen ist. Und schließlich besteht auch in terminologischer Sicht keine Einigkeit: zum Teil wird zwischen Ziel und Zweck unterschieden, zum Teil darüber hinausgehend auch zwischen Motiv und Grund.[279]

 

Tz. 194

Historisch betrachtet zielten die bilanzrechtlichen Vorschriften des ADHGB von 1866 ohne Zweifel auf den Schutz der Gläubiger des Bilanzierenden vor Vermögensverlusten durch Insolvenz.[280] Gewährleistet werden sollte dieser Schutz zum einen durch die Pflicht zur vollständigen Dokumentation und zum andern durch das Vorsichtsprinzip, das dem Kaufmann verbietet, sich reicher zu rechnen als er ist. Allerdings zeigten die vielfältige Betrügereien und die krisenhafte Zuspitzung der Entwicklung in der Gründerzeit zum so genannten "Gründerkrach", dass dieses System unzulänglich war. Der Gesetzgeber sah sich zur Einführung des Kapitalerhaltungsgrundsatzes gezwungen. Er fügte das Anschaffungskostenprinzip, das Herstellungskostenprinzip und den Realisationsgrundsatz in das gesetzliche Bilanzrecht ein. Seinerzeit bewertete man den daraus resultierenden niedrigen Ausweis von Reinvermögen und Gewinnen und den vergleichsweise weiten Ermessensspielraum der Unternehmensleitungen in Bezug auf die weitere Absenkung dieser Größen positiv. Erklären lässt sich das mit der in Deutschland seit der Gründerzeit starken Stellung der Hausbanken, die für die Gewinnung eines realistischen Bildes der Vermögens- und Ertragslage nicht auf die Bilanz angewiesen waren. Weitere Ursachen sind die geringe Bedeutung der Eigenkapitalaufnahme über die Börsen und schließlich das für die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert typischen System von Überkreuzverflechtungen, das die Unternehmen der Kontrolle durch die Finanzmärkte und der damit verbundenen Disziplinierungswirkung weitgehend entzog ("Deutschland AG"). Logische Folge dieser Struktur waren ein niedriger Eigenkapitalausweis gekoppelt mit hohen Ausschüttungssperren.

 

Tz. 195

Anders entwickelten sich die Dinge bekanntlich im angloamerikanischen Raum, wo sich die Unternehmen traditionell sehr viel stärker im Streubesitz befanden und über die Börsen und den Kapitalmarkt finanzieren mussten. Rechnungslegung muss in einem solchen System geeignet sein, den potenziellen Anlegern die notwendigen Informationen für die Entscheidung über Beginn und Beendigung, Ausweitung bzw. Eingrenzung eines finanziellen Engagements zu vermitteln (decision usefulnes). Rechnungslegung dient einer möglichst marktnahen Beurteilung der Chancen und Risiken des Unternehmens. Im Mittelpunkt des Bilanzrechts steht das Informationsbedürfnis und daran gekoppelt der Schutz der Anleger. Eine Ankopplung der Steuerbilanz an die Handelsbilanz kommt hier nicht infrage.

 

Tz. 196

Ein Nebeneinander dieser beiden Bilanzrechtsphilosophien war so lange möglich, wie die Kapitalmärkte weitgehend national bzw. regional abgeschottet waren. Erst die Internationalisierung und der weltweite Wettbewerb auf den Kapitalmärkten führte zu jenem Anpassungsdruck, der die schrittweise Öffnung der nationalen Systeme in Gang setzte, eine Entwicklung, die gewiss noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird.

 

Tz. 197

Verbreitet ist heutzutage die Untergliederung der Rechnungslegungszwecke in folgende Einzelzwecke:

  • Dokumentation
  • Selbstinformation
  • Rechenschaft gegenüber Außenstehenden
  • Zahlungsbemessung mit den Unterfunktionen

    • Ausschüttungsbemessung und
    • steuerliche Gewinnermittlung.

Weitgehende Einigkeit besteht inzwischen immerhin darin, dass Rechnungslegung und Bilanzrecht multifunktional (bzw. zweckplural)[281] angelegt sind. Die Bilanzrichtlinie 2013 bringt das in ihrem Erwägungsgrund (4) deutlich zum Ausdruck, wo es heißt: "Mit ...

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