Tz. 219

Akzessorisch zum Ziel der Ausschüttungsbemessung ist das weitere Ziel der Bemessung der Besteuerung. Das deutsche Handels- und Steuerrecht ist traditionell geprägt vom Gedanken der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz (§ 5 Abs. 1 EStG). Aus ökonomischer Perspektive könnte man den zugrunde liegenden Kerngedanken so formulieren: In derselben Weise, in der die Gläubiger vor dem begehrlichen Zugriff der (Mehrheits-) Gesellschafter auf das Gesellschaftsvermögen geschützt werden sollen, sollen sie vor dem begehrlichen Zugriff des Fiskus geschützt werden. Letztlich wird also der Fiskus, obwohl als Steuergläubiger rechtlich gesehen Gläubiger (Fremdkapitalgeber), wirtschaftlich wie ein Gesellschafter (Eigenkapitalgeber) behandelt. Verfassungsrechtlich fundiert wird dieser Gedankengang durch den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Dies bedeutet, dass die gewinnabhängige Besteuerung nicht dazu führen darf, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmung unangemessen beeinträchtigt wird.[303]

 

Tz. 220

Die Abhängigkeit der Steuerbilanz von der Handelsbilanz ist nicht unproblematisch, denn der Steuerpflichtige kann sich aus steuerlichen Motiven veranlasst sehen, handelsbilanzielle Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen. Verschärft wurde dieses Problem durch die so genannte umgekehrte Maßgeblichkeit, die zu einer regelrechten Konkurrenz der handelsbilanziellen zu den steuerlichen Bilanzierungszwecken führte.[304] Da der Bilanzierende gezwungen war, für die Inanspruchnahme steuerrechtlicher Vergünstigungen (etwa die Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen oder Sonderabschreibung) in der Handelsbilanz Werte anzusetzen, die bei aktivischer Absetzung unter den nach handelsrechtlichen Grundsätzen eigentlich gebotenen Werten liegen, wurde der Einblick sowohl in die Vermögens als auch in die Ertragslage getrübt. Um diesen "Informationsschwund"[305] zu beheben, wurde die umgekehrte Maßgeblichkeit vom Gesetzgeber durch das BilMoG im Jahre 2009 aufgehoben.[306] Nach § 5 Abs. 1 EStG ist es dem Bilanzierenden nunmehr möglich, nicht nur rein steuerliche, sondern auch originär handelsrechtliche Wahlrechte, die sich aus dem Gesetz oder aus steuerlichen Verwaltungsanweisungen ebenfalls für das Steuerrecht ergeben, im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung neu und unabhängig auszuüben.[307] Allerdings ist diese Entwicklung hin zu größerer Eigenständigkeit der Steuerbilanz noch nicht abgeschlossen. Vor allem im Lichte der Bilanzrechtsharmonisierung wird das Maßgeblichkeitsprinzip als Störfaktor eingestuft.[308] Daher erscheint es durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich die Steuerbilanz auf längere Sicht komplett von der Handelsbilanz löst.[309]

[303] Zur Historie des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, der weniger aus ökonomischem Kalkül als vielmehr aus dem schlichten Fehlen eigener steuerbilanzieller Regelungen geboren wurde, Walz, in: Heymann, HGB, Band 3, Einl. Rn. 71.
[304] Pfitzer/Oser/Lauer, in: Küting/Weber, Konzernrechnungslegung, II Rn. 24.
[305] Leffson, GoB, 108.
[306] BT-Drucks. 16/10067, 34.
[307] Pfitzer/Oser/Lauer, in: Küting/Weber, Konzernrechnungslegung, II Rn. 26.
[308] Buchholz/Weis, DStR 2002, 512.
[309] Coenenberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss, 22.

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