Tz. 45

Am auffälligsten ist gewiss die in den achtziger Jahren begonnene und seither kontinuierlich zunehmende Europäisierung des Bilanzrechts, die allerdings seit der Jahrtausendwende überlagert wird durch die Internationalisierung. Diese doppelte Überlagerung des HGB-Bilanzrechts durch europäische und internationale Regelungen hat unterschiedliche Konsequenzen. Zunächst verliert der nationale Regelgeber an Einfluss und an Autonomie. Aber auch der europäische Regelgeber ist nicht mehr so unabhängig, wie er es noch in den neunziger Jahren war. Durch die Entscheidung, die IFRS jedenfalls für den Konzernabschluss börsennotierter Unternehmen EU-weit vorzuschreiben, hat sich die europäische Harmonisierung an die internationale Harmonisierung angekoppelt. Das hat allerdings als weitere Konsequenz den positiven Nebeneffekt, dass die europäische Harmonisierung in diesem Bereich zu einem gewissen Grad vereinfacht wird, weil es zur Internationalisierung letztlich keine Alternative gibt und innerhalb der Mitgliedstaaten insoweit auch keinen Verhandlungsspielraum mehr. Europäisierung und Internationalisierung sind insoweit partiell deckungsgleich. Da aber die Einführung der IFRS für den Konzernabschluss börsennotierter Unternehmen unweigerlich auf den Einzelabschluss auch nicht börsennotierter Unternehmen ausstrahlt, wirkt die Internationalisierung der Rechnungslegung auch in das allgemeine Bilanzrecht hinein. Eine weitere Konsequenz ist die wachsende Komplexität des Bilanzrechts. Bilanzrecht ist heute ein Mehrebenenrecht (vgl. Tz. 54 ff.) mit schwierigen Abgrenzungs- und Anwendungsfragen. So liegt die Anwendung und Rechtsdurchsetzung für die IFRS in den Händen der europäischen bzw. der nationalen Rechtsprechung, denn es fehlt eine international zentrale Rechtsprechungsinstanz.[87] Der EuGH wird auf diesem Weg zum mächtigsten und einflussreichsten Rechtsprechungskörper im Bilanzrecht in Europa. Und für die Auslegung des Bilanzrechts konkurrieren nationale mit europäischen und internationalen Grundsätzen. Über das Rangverhältnis im Kollisionsfall besteht Unklarheit.

[87] Dazu Merkt, ZfbF 66 (2014), 477 (499); Schön, BB 2004, 763.

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