Interview: „Das wäre der Tod des Green Deal“

Eine Verschiebung und Aushöhlung der CSRD-Berichtspflichten könnte die nachhaltige Transformation und Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen beeinträchtigen, sagt Prof. Dr. Patrick Velte. Im Interview ordnet er die aktuelle Debatte zu einer möglichen Abschwächung der europäischen Nachhaltigkeitsregelungen ein.

Das neue Jahr beginnt für Nachhaltigkeitsverantwortliche so, wie das alte endete: mit der Debatte um eine mögliche Abschwächung von drei Nachhaltigkeitsregulierungen des „Green Deal“-Projekts der EU (CSRD, CSDDD und Taxonomie-Verordnung). In diese mischte sich Anfang Januar auch Bundeskanzler Olaf Scholz ein, indem er in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine „pragmatische Balance“ von Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz forderte. Wird etwa die – auch von der SPD mitbeschlossene – Nachhaltigkeitsgesetzgebung dem Wahlkampfthema „Bürokratieabbau“ geopfert? Welche Signalwirkung hat das? Prof. Dr. Patrick Velte von der Leuphana Universität Lüneburg teilt seinen Blick auf die Debatte in diesem Interview.

Herr Velte, der Bundeskanzler hat sich Anfang Januar an Ursula von der Leyen gewandt. Er schlägt unter anderem vor, die CSRD-Berichtspflicht um zwei Jahre zu verschieben und die Schwellenwerte bei der Höhe des Umsatzes und der Anzahl an Beschäftigen anzuheben. Ist das ein Wahlkampfmanöver oder könnte dies tatsächlich durchgesetzt werden?

Prof. Dr. Patrick Velte: Die Forderung des Kanzlers ist mehr als nur ein politisches Statement. Während eine Verschiebung des Erstanwendungszeitpunkts für mittelständische Unternehmen sinnvoll erscheinen mag, wäre die gesamte Anhebung der Schwellenwerte gravierend. Sie würde den Anwendungsbereich der CSRD erheblich einschränken. Das ist aber Augenwischerei, denn ein informativer Nachhaltigkeitsbericht muss auch die Daten von mittelständischen Unternehmen aus der Lieferkette enthalten. Das bedeutet, dass kleinere Unternehmen, die aus der CSRD-Berichtspflicht herausfallen würden, trotzdem in proprietären Anfragen an ihre Großkunden berichten müssten.

Die EU hat mit der CSRD den Versuch unternommen, die Nachhaltigkeitsberichterstattung zu standardisieren und zu vereinheitlichen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung nicht die Wirtschaftsverbände aufgefordert, konkrete Praxisleitlinien als „Best Practice“ oder Softwarelösungen zu den ESRS zu entwickeln. Das DRSC ist hier eine Ausnahme.

Dass die Unternehmen jetzt über das „Bürokratiemonster“ CSRD stöhnen, liegt auch daran, dass sie bislang unzureichende Hilfestellungen bei der Umsetzung der Berichtspflichten bekommen haben.

Mögliche Folgen des Omnibus-Pakets

Die EU plant, die drei zentralen Nachhaltigkeitsregulierungen CSRD, CSDDD und EU-Taxonomie-Verordnung durch ein sogenanntes Omnibus-Gesetz zu vereinheitlichen und gegebenenfalls inhaltlich abzuschwächen. So sollen die Berichtspflichten um 25 Prozent reduziert werden. Am 14. Januar haben mehrere europäische NGOs einen gemeinsamen Appell gegen das angekündigte Gesetz veröffentlicht. Wie könnte dieses aussehen – werden die betroffenen Regelwerke noch einmal grundsätzlich infrage gestellt?

Das ist die große Preisfrage. Der Anwendungsbereich der Lieferkettenrichtlinie CSDDD ist viel kleiner als jener der CSRD. Das wurde als politischer Kompromiss auf EU-Ebene so entschieden, damit die CSDDD im vergangenen Jahr überhaupt verabschiedet werden konnte. Viele Unternehmen sind direkt von der CSRD betroffen, aber nicht von der CSDDD. Diese Lücke ist problematisch, da die Wertschöpfungskette sowie Risiko- und Compliance-Managementsysteme bei vielen CSRD-Themen eine große Rolle spielen. Die zwingende Implementierung von nachhaltigkeitsbezogenen Managementsystemen und Sorgfaltspflichten entlang der Wertschöpfungskette des Unternehmens sind jedoch nur Bestandteil der CSDDD. Nach der CSRD muss lediglich darüber berichtet werden, ob diese Systeme implementiert wurden oder nicht. Dadurch, dass die CSRD konkrete Dokumentationspflichten entlang der Wertschöpfungskette schafft (zum Beispiel CO2-Emissionen in Scope 3), sind viele Unternehmen dennoch indirekt von der CSDDD betroffen. Dies ist insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen herausfordernd, die über keine entsprechenden Managementsysteme verfügen.

Es wäre höchst problematisch, wenn die EU den Anwenderkreis der Nachhaltigkeitsberichterstattung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der CSDDD einschränkt und die Struktur der ESRS wesentlich modifiziert. Das wäre der Tod des Green Deal. Die CSRD sollte sich nicht nur auf ausgewählte große Unternehmen beschränken, denn diese brauchen die Daten von ihren Zulieferern. Es wäre ein Trugschluss zu denken, weil man die CSRD-Anwendung limitiert, kommt das nicht unten im Mittelstand an (sogenannter „Trickle down“-Effekt).

Signalwirkung nach Europa

Einige EU-Länder haben die CSRD bereits in nationales Recht umgesetzt, Deutschland hätte das eigentlich auch bis zum Sommer vergangenen Jahres tun müssen. Welche Signalwirkung hat die Forderung des Kanzlers nun?

Als Motor der europäischen Wirtschaft hat Deutschland eine Vorbildfunktion. Ich hätte mir gewünscht, dass Deutschland und Frankreich als die beiden größten Volkswirtschaften Europas mit gutem Beispiel vorangehen und gemeinsam dafür eintreten, dass die CSRD fristgerecht umgesetzt wird. Es ist fatal, dass wir jetzt von unseren Nachbarn als Bremsklotz innerhalb der EU wahrgenommen werden. Die Forderung nach einer Verschiebung und Abschwächung der CSRD sendet ein negatives Signal. Und das gleichermaßen an die EU-Länder, die die Richtlinie bereits umgesetzt haben, und die EU-Staaten, die ebenfalls in Verzug sind und sich nun in ihrem Zaudern bestätigt fühlen.

Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Rechtsrucks in Teilen Europas sollte Deutschland zu den Zielen des „Green Deal“-Projekts und den drei EU-Regulierungen stehen.

Einige der größten französischen Unternehmen, darunter Amundi und EDF, haben bereits auf die Forderung aus Deutschland reagiert. Sie unterzeichneten einen Brief an die EU, in dem sie sich für die Einhaltung des Zeitplans zur Umsetzung der ESG-Berichtspflichten aussprechen. Schließlich seien die Regeln „wesentliche Instrumente [...], um sicherzustellen, dass europäische Unternehmen auf ESG-Risiken vorbereitet sind und in einer wettbewerbsfähigen globalen Wirtschaft gedeihen können“. Wäre eine Verzögerung am Ende ein Bärendienst für die deutsche Wirtschaft?

Langfristig kommen insbesondere „nachhaltigkeitsintensive“ Branchen in Deutschland nicht umhin, ihre Geschäftsmodelle zu transformieren. Die Automobilindustrie etwa steckt derzeit in großen Schwierigkeiten, weil sie ihre Nachhaltigkeitstransformation unter der Merkel-Regierung nicht konsequent genug verfolgt hatte. Denken Sie an den VW-Softwareskandal. Alte Geschäftsmodelle als Cash Cows weiter zu melken, wird nicht ewig funktionieren. Langfristig müssen wir auf umwelt- und sozialverträgliche Geschäftsmodelle und alternative Energien zurückgreifen. Es ist jedoch schwierig, diese strategischen Veränderungen vorzunehmen, wenn die deutsche Wirtschaft wie jetzt in enormen finanziellen Schwierigkeiten steckt. Hierfür brauchen wir eine starke Bundesregierung und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit Anreizen zu Nachhaltigkeitsinvestitionen.

Eine inhaltliche Abschwächung der CSRD, CSDDD und der Taxonomie-Verordnung könnte die Transformation hin zu nachhaltigen Geschäftsmodellen verzögern und dazu führen, dass Unternehmen notwendige Investitionen in Nachhaltigkeit, zum Beispiel im Klimamanagement, unterlassen. In den USA sehen wir derzeit eine ausgeprägte „Anti-ESG-Bewegung“ vieler Firmen als Reaktion auf die zweite Trump-Regierung. Hier werden unter anderen unternehmerische Diversity-Anstrengungen zurückgefahren.

Das angekündigte Omnibus-Gesetz der EU-Kommission könnte die langfristige Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen im globalen Markt beeinträchtigen, etwa im direkten Vergleich zu China.

Nachhaltigkeitsrisiken sind immer auch Finanzrisiken, Investoren achten zunehmend auf ESG-Faktoren. Unternehmen ohne solide Nachhaltigkeitsstrategien werden sich auf künftige Krisen nicht erfolgreich einstellen können. Eine geringere Resilienz von Unternehmen mit niedrigen Nachhaltigkeitswerten konnten wir empirisch auch in der Covid-Krise beobachten.

Zwar gehen die ESRS als europäische Nachhaltigkeitsberichtsstandards weit über das hinaus, was bisher zum Beispiel nach den freiwilligen GRI-Standards berichtet wurde. Aber der europäische Kapitalmarkt benötigt eine Vergleichbarkeit und Standardisierung, um eine angemessene Informationsqualität der Nachhaltigkeitsberichte sicherzustellen. Wir haben doch die negativen Erfahrungen mit der Non-Financial Reporting Directive (NFRD) seit dem Geschäftsjahr 2017 in der EU gemacht.

„... größtmögliche Form von Rechtsunklarheit“

Was würde eine Verschiebung der CSRD-Berichtspflicht ganz praktisch für die Ersteller bedeuten?

Ich gehe davon aus, dass die börsennotierten Unternehmen, die bereits eine nichtfinanzielle Erklärung nach der NFRD abgeben mussten, sich sorgfältig auf die CSRD und ESRS vorbereitet haben. Die DAX-Unternehmen werden ihre ersten CSRD-Berichte für das Geschäftsjahr 2024 wahrscheinlich auch ohne verabschiedetes CSRD-Umsetzungsgesetz in den kommenden Monaten veröffentlichen. Sie werden gegebenenfalls bestimmte Nachhaltigkeitsthemen ausklammern, deren Aufbereitung mehr Zeit erfordert, zum Beispiel Biodiversitätskennzahlen, um sie in späteren Jahren zu ergänzen. Mittelständische Unternehmen sollten die ersten CSRD-Berichte sorgsam lesen, um von den Vorreitern zu lernen und ihre eigenen Berichtssysteme entsprechend anzupassen. Dennoch bleibt die Herausforderung bestehen, dass viele Unternehmen neue Informations- und Managementsysteme entwickeln müssen, um den Anforderungen der drei EU-Regulierungen gerecht zu werden.

Und wie ist die Situation für Aufsichtsräte und Wirtschaftsprüfer?

Auch für Aufsichtsräte besteht momentan eine größtmögliche Form von Rechtsunsicherheit. Für die betroffenen Unternehmen ist derzeit alles möglich: Man kann die ESRS vollständig anwenden, teilweise anwenden oder sich lediglich auf die alte nicht-finanzielle Erklärung nach der NFRD konzentrieren. Wie soll da eine Vergleichbarkeit entstehen? Wie soll das Thema bei den Stakeholdern eine positive Konnotation gewinnen? Ich sehe da momentan wenig Möglichkeiten.

Die Wirtschaftsprüfer, welche über langjährige Erfahrungen in der Prüfung von Nachhaltigkeitsberichten verfügen, haben sich sicher gut vorbereitet. Aber es gibt eine Zweiklassengesellschaft: Die Big Four haben in den vergangenen Jahren die NFRD-Berichte und auch die freiwilligen GRI-Berichte von den DAX-Unternehmen mit überwiegender Mehrheit geprüft. Sie verfügen über interdisziplinäre Teams mit Naturwissenschaftlern und IT-Spezialisten. Bei den kleineren Wirtschaftsprüfungsgesellschaften unterhalb der Next Ten finden wir noch erheblichen Anpassungsbedarf in diesen Bereichen. Insgesamt sehe ich eine strategische Herausforderung für den gesamten Berufsstand. Die Arbeit in der Wirtschaftsprüfung muss attraktiver werden, um mehr junge Menschen und Nachhaltigkeitsexperten zu gewinnen. Dies kann eine Chance für den Berufsstand sein. Eine Zusammenarbeit mit Umweltgutachtern und Zertifizierern wäre hilfreich, um das notwendige naturwissenschaftliche Know-how zu integrieren und die Qualität der Prüfungen zu erhöhen.

Vielen Dank für das Gespräch!