Sachverhalt

Bei dem spanischen Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 199 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass bei Lieferungen von Grundstücken, die vom Schuldner im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens verkauft werden, der die Lieferung empfangende Unternehmer die Steuer schuldet.

Fraglich war u.a., ob die Vorschrift sich nur auf Lieferungen bezieht, die aufgrund der auf die Liquidation gerichteten Natur des Verfahrens oder des Liquidationsabschnitts, in dem sich das Verfahren befindet, erfolgen, so dass die Veräußerung der Grundstücke im Rahmen der abschließenden Liquidation eines Vermögens stattfinden muss, oder ob sich die Regelung auch auf Lieferungen von Grundstücken durch den insolventen Schuldner während eines Insolvenzverfahren bezieht, wenn neben der Liquidation des insolventen Unternehmens auch andere Möglichkeiten zum Abschluss des Verfahrens in Betracht kommen. Fraglich war auch, ob die Vorschrift sich nur auf gerichtliche Zwangsversteigerungen zur Liquidation des Schuldnervermögens bezieht.

Bei dem Verfahren, in dem sich die Vorlagefrage stellte, handelte es sich um ein freiwilliges Insolvenzverfahren, das durch die Feststellung der Insolvenz der Klägerin mit entsprechendem Beschluss eingeleitet wurde. Das Verfahren befandt sich im allgemeinen Abschnitt, der der Ausarbeitung des Abschlussberichts dient, in dem die Insolvenzverwaltung die Aktiva und Passiva der insolventen Gesellschaft feststellt. Nach Abschluss des allgemeinen Verfahrensabschnitts sind nach dem spanischen Insolvenzgesetz (LC) zwei Wege eröffnet: eine Vereinbarung mit den Gläubigern, die die Fortsetzung der wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht, oder die Auflösung der Gesellschaft und die Liquidation ihres Vermögens.

Im Rahmen dieses allgemeinen Verfahrensabschnitts bot sich die Gelegenheit, zwei im Eigentum des insolventen Unternehmens stehende Grundstücke zu verkaufen. Dies hatte die Verpflichtung zur Folge, die auf diese unternehmerische Tätigkeit entfallende MwSt zu zahlen. Das insolvente Unternehmen hatte aufgrund einer befürwortenden Stellungnahme der Insolvenzverwaltung und des Beschlusses der Käuferin, B S.A., gemäß Art. 43 Abs. 3 LC die Genehmigung des Verkaufs beantragt und ein Angebot für beide Grundstücke vorgelegt. Das zuständige Gericht hatte mit rechtskräftigem Beschluss festgestellt, dass der Kaufvertrag zweckmäßig sei und im Interesse des Insolvenzverfahrens liege. Mit der Genehmigung des Kaufvertrags, der mit der wirtschaftlichen Tätigkeit des insolventen Unternehmens im Zusammenhang steht, war der Steuertatbestand eingetreten und folglich die Verpflichtung entstanden, die entsprechende MwSt an die AEAT abzuführen. Es bestanden jedoch Zweifel dahingehend, wer insoweit die Steuer schuldet: das insolvente oder das erwerbende Unternehmen.

Nach Art. 84 Abs. 1 Nr. 2 E-MwStG verlagert sich bei folgenden Umsätzen die Steuerschuld auf den Empfänger: Lieferungen von Grundstücken im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Der EuGH musste prüfen, ob der in Art. 199 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL verwendete Begriff des "Zwangsversteigerungsverfahrens" die Möglichkeit der Verlagerung der Steuerschuld auf sämtliche Insolvenzverfahren abdeckt, unabhängig davon, ob sie Liquidationscharakter haben oder nicht.

 

Entscheidung

Der EuGH hat den Wortlaut von Art. 199 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die spanische Sprachfassung dieser Richtlinie zwar den Begriff "Liquidation" ("liquidación") verwendet, nach den anderen Sprachfassungen aber der meistverwendete Ausdruck "Zwangsversteigerungsverfahren" ist. Dieser Begriff hat einen weiteren Anwendungsbereich als die eigentliche Liquidation. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Mit Blick auf den mit Art. 199 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL verfolgten Zweck, dass die Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werden sollten, in bestimmten Sektoren oder bei bestimmten Arten von Umsätzen das Verfahren der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft anzuwenden, um die Vorschriften zu vereinfachen und die Steuerhinterziehung und -umgehung zu bekämpfen, kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens in Fällen wie den des Ausgangsverfahrens nicht auf die im Rahmen eines Verfahrens zur Liquidation des Vermögens des insolventen Schuldners erfolgende Übertragung von Grundstücken beschränkt werden kann. Folglich kann das Reverse-Charge-Verfahren auf den Verkauf eines Grundstücks durch den Schuldner einer vollstreckbaren Forderung im Rahmen jedes Insolvenzverfahrens, unabhängig davon, ob es auf eine Liquidation gerichtet ist, angewandt werden, wenn der Verkauf geboten ist, um die Gläubiger zu befriedigen oder dem Schuldner die Wiederaufnahme seiner wirtschaftli...

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