Entscheidungsstichwort (Thema)

Klagebefugnis des Sozialleistungsträgers in Kindergeldsachen. Fähigkeit eines volljährigen behinderten Kindes zum Selbstunterhalt. Nachrang der Sozialhilfe

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Soweit ein Sozialleistungsträger Kindergeld im berechtigten Interesse nach § 67 Satz 2 EStG beantragen kann, steht ihm im Falle dessen Ablehnung auch eine Klagebefugnis i. S. v. § 40 Abs. 2 FGO zu, wenn ein Anspruch zumindest in Betracht kommt.

2. Bei der zur Prüfung, ob ein behindertes volljähriges Kind aufgrund der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, vorzunehmenden Gegenüberstellung des notwendigen Lebensbedarfs und der kindeseigenen Mittel müssen dem Kind gewährte Sozialleistungen außer Betracht bleiben, soweit der Sozialleistungsträger Erstattung bzw. Abzweigung des Kindergeldes verlangen kann.

3. Dass der Sozialleistungsträger Leistungen nach dem SGB XII ohne Berücksichtigung von Kindergeld erbracht hat, darf nach dem Grundsatz vom Nachrang der Sozialhilfe nicht ursächlich dafür sein, dass deshalb die Bewilligung von Kindergeld mangels Unfähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt i. S. v. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG abgelehnt wird.

 

Normenkette

SGB XII §§ 2, 19 Abs. 1, 3, § 53; SGB X § 104 Abs. 1; EStG § 74 Abs. 2, § 67 S. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3; FGO § 40 Abs. 2

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 27.11.2019; Aktenzeichen III R 28/17)

 

Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 11.03.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.08.2016 verpflichtet, der Beigeladenen für S. E. von Oktober 2015 bis Juni 2016 Kindergeld zu bewilligen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt, werden zu 11/20 dem Kläger und zu 9/20 der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob und ggf. inwieweit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – –SGB XII– (hier: Hilfe zum Lebensunterhalt und Eingliederungshilfe) bei der Prüfung der Fähigkeit eines volljährigen behinderten Kindes, sich selbst zu unterhalten, als Bezüge des Kindes zu berücksichtigen sind, wenn der Sozialleistungsträger die Erstattung bzw. Abzweigung des Kindergeldes begehrt.

Der Kläger gewährte der am 01.12.1971 geborenen Tochter der Beigeladenen, S. E., Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII im ambulant betreuten Wohnen durch den Träger Lh. e.V. ohne Kostenbeitrag, weil S. E. die Aufbringung von Mitteln aus dem Einkommen und Vermögen nach § 19 Abs. 3 SGB XII nicht zuzumuten sei. Für die Betreuungsleistungen stellte der Lh. e.V. dem Kläger von Oktober 2015 bis März 2016 jeweils 284,59 Euro und ab April 2016 294,39 Euro monatlich in Rechnung. Ferner bewilligte der Kläger S. E. mit Bescheid vom 18.10.2015 Hilfe zum Lebensunterhalt ab November 2015 in Höhe von rd. 60 Euro monatlich und mit Änderungsbescheid vom 30.12.2015 ab Januar 2016 in Höhe von 99,44 Euro. Daneben erhielt S. E. Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 790,79 Euro bis Juni 2016 und in Höhe von 837,85 Euro ab Juli 2016.

Unter dem 15.10.2015 beantragte der Kläger im berechtigten Interesse die rückwirkende Gewährung von Kindergeld für S. E. sowie dessen Abzweigung und bei nachträglicher Festsetzung dessen Erstattung. S. E. erhalte vom Kläger ab November 2015 Grundsicherung nach dem SGB XII in Höhe von rd. 60 Euro monatlich. Dazu hörte die Beklagte unter dem 21.12.2015 die Beigeladene an und forderte sie auf, einen beigefügten Antragsvordruck vollständig ausgefüllt und unterschrieben an die Familienkasse zurückzusenden. Unter dem 19.01.2016 forderte die Beklagte den Kläger auf, einen beigefügten Antragsvordruck vollständige ausgefüllt zurückzusenden. Am 20.01.2016 übersandte die Betreuerin S. E.s einen formularmäßigen Kindergeldantrag der Beigeladenen vom 01.01.2016, wobei nur die ausgefüllte Erklärung zu den verfügbaren finanziellen Mitteln eines über 18 Jahre alten Kindes mit Behinderung und eine Erklärung zu finanziellen Aufwendungen der Beigeladenen für S. E. ohne Eintragungen von der Beigeladenen unterschrieben war, nicht aber das Antragsformular selbst. Mit dem Antrag wurde die Zahlung des Kindergeldes auf das Bankkonto der S. E. begehrt. Am 10.02.2016 reichte der Beklagte das ausgefüllte Antragsformular bei der Klägerin ein. Auf Aufforderung der Beklagten reichte die Beigeladene am 02.03.2016 den formularmäßigen Kindergeldantrag nochmals ein, der unter dem 26.02.2016 sowohl von ihr und ihrem Ehegatten als auch von S. E. unterschrieben war. Auch mit diesem Antrag begehrte die Beigeladene die Zahlung des Kindergeldes auf das Bankkonto der S. E.. Am 04.03.2016 reichte der Kläger Unterlagen zur Behinderung S. E.s nach.

Mit Bescheid vom 11.03.2016 lehnte die Beklagte gegenüber der Beigeladenen die Bewilligung von Kindergeld für S. E. ab Januar 2015 ab, weil diese in der Lage sei, durch eigene verfügbare finanzielle Mittel ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. ...

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