Leitsatz

Der Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen eines rückwirkenden Ereignisses steht nicht entgegen, dass der Sachverhalt, auf den sich das Ereignis auswirkt (hier: Veräußerung einer qualifizierten Beteiligung, Entstehung nachträglicher Anschaffungskosten) im Ausgangsbescheid nicht berücksichtigt war.

 

Normenkette

§ 173 Abs. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, § 17 Abs. 1, Abs. 4 EStG, § 32a GmbHG a.F.

 

Sachverhalt

Die Klägerin veräußerte im Streitjahr (2003) einen GmbH-Geschäftsanteil und erzielte daraus einen Erlös, der ihren Anschaffungskosten entsprach. Deshalb erklärte sie den Vorgang zunächst nicht. Ein Darlehen, welches die Klägerin der GmbH zur Anschaffung eines Grundstücks gewährt hatte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgezahlt. 2004 wurde die GmbH insolvent. Das Insolvenzverfahren wurde nicht eröffnet. Die Klägerin betrieb in der Folgezeit die Zwangsversteigerung in das Grundstück, ging bei der Schlussverteilung im Jahr 2008 wegen vorrangiger Rechte jedoch leer aus. Danach machte sie nachträgliche Anschaffungskosten in Höhe ihres endgültigen Darlehensausfalls geltend und beantragte, den verbleibenden Verlustvortrag 2003 entsprechend höher festzustellen. Das FA und das FG (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 29.7.2014, 3 K 77/10, Haufe-Index 7436690, EFG 2015, 52) lehnten dies ab. Das Darlehen sei nur teilweise gesichert gewesen. In Höhe des ungesicherten Teils habe der Ausfall des Rückzahlungsanspruchs bereits 2003 festgestanden. Im Übrigen kämen zwar nachträgliche Anschaffungskosten in Betracht, wenn das Darlehen eigenkapitalersetzend gewesen wäre. Dies könne jedoch offenbleiben, weil eine Änderung des bestandskräftigen Verlustfeststellungsbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht in Betracht komme.

 

Entscheidung

Auf die Revision der Klägerin hat der BFH das Urteil des FG aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen. Soweit das Darlehen nicht gesichert war, sei die Entscheidung nicht zu beanstanden. Im Übrigen muss das FG aber klären, ob der Klägerin nachträgliche Anschaffungskosten entstanden sind.

 

Hinweis

Steht der Berücksichtigung eines nachträglichen rückwirkenden Ereignisses entgegen, dass die Besteuerungsgrundlage, auf die es sich auswirkt (hier: Veräußerungsgewinn), im Bescheid noch nicht berücksichtigt ist? Diese gewissermaßen "formelle Theorie", die das FA und das FG vertraten, hat der BFH im Besprechungsurteil verworfen und die entgegengesetzte, eher materiell-rechtliche Position eingenommen:

1. Zunächst bedarf es einer Klarstellung. Nach dem Leitsatz ist ein bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid auch dann nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern, wenn ein rückwirkendes Ereignis eintritt und sich auf eine Besteuerungsgrundlage auswirkt, die im Bescheid noch nicht erfasst war. Streitig war allerdings nicht die Änderung des ESt-Bescheids, sondern die des Bescheids über die gesonderte Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags.

a) Zwar gilt insofern nichts Unterschiedliches, denn im ESt-Bescheid und im Verlustfeststellungsbescheid sind die einzelnen Besteuerungsgrundlagen verfahrensrechtlich nicht selbstständig anfechtbar. Anders ist dies z.B. bei Bescheiden über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen.

b) Entschieden ist aber gleichwohl nur: Ein Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags ist gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1  Nr. 2 AO zu ändern (d.h. der Verlust ist höher festzustellen), wenn nachträglich ein Ereignis eintritt, das rückwirkend die Höhe des verbleibenden Verlustvortrags beeinflusst, auch wenn es sich auf eine (verfahrensrechtlich unselbstständige) Besteuerungsgrundlage (Veräußerungsverlust) auswirkt, die bisher im Verfahren noch nicht berücksichtigt war und deshalb die Höhe des festgestellten Verlustvortrags auch noch nicht beeinflusst hat.

2. Für diese Auslegung spricht schon der Wortlaut des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Ihm ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die Norm nur gelten soll für rückwirkende Ereignisse, die sich auf Besteuerungsgrundlagen auswirken, die im Bescheid erfasst sind oder ihm zugrunde liegen. Geändert wird der Bescheid, nicht eine im Bescheid erfasste Besteuerungsgrundlage. Dies ist möglicherweise anders zu beurteilen bei einem Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, soweit nachträglich ein Ereignis eintritt, das sich auf eine verfahrensrechtlich selbstständige Besteuerungsgrundlage auswirkt, die bisher im Bescheid noch nicht festgestellt ist.

3. Die davon abweichende Auffassung des FG entsprach auch nicht der bisherigen Rechtsprechung des BFH. Danach findet § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sogar dann Anwendung, wenn der Bescheid, in dem der Vorgang zu erfassen wäre, noch gar nicht erlassen ist (vgl. die Nachweise im Urteil). Daraus lässt sich entnehmen, dass es auf die Bescheidlage nicht ankommt. Allerdings kommt es in einem solchen Fall auch nicht auf § 17...

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