6.1 Bilanzierung dem Grunde nach

Die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten setzt eine Verpflichtung gegenüber einem Dritten voraus, wodurch Vergangenes abgegolten wird. Dementsprechend ist eine Verbindlichkeitsrückstellung für eine Verpflichtung zu bilden, wenn

  • es sich um eine Verbindlichkeit gegenüber einem Dritten oder um eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung handelt,
  • die Verpflichtung vor dem Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht ist,
  • mit einer Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist und
  • die Aufwendungen in künftigen Wirtschaftsjahren nicht zu Anschaffungs- oder Herstellungskosten für einen Vermögensgegenstand führen.[1]

In Anwendung der genannten Kriterien muss handelsrechtlich für Verpflichtungen wegen einer Patentverletzung dann eine Verbindlichkeitsrückstellung gebildet werden, wenn

  1. der Rechteinhaber bereits Ansprüche geltend gemacht hat (Fallgruppe 1) oder
  2. der Rechteinhaber zwar noch keine Ansprüche geltend gemacht hat, aber mit einer Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist (Fallgruppe 2).

Diese Grundsätze finden nach § 5 Abs. 1 EStG auch Eingang in die Steuerbilanz. Allerdings gilt für die Rückstellungen wegen der Verletzung fremder Patent-, Urheber- oder ähnlicher Schutzrechte die steuerliche Sonderregelung des § 5 Abs. 3 EStG. Danach sind derartige Rückstellungen auch in der Steuerbilanz zu bilden, wenn

  1. der Rechteinhaber Ansprüche wegen der Rechtsverletzung geltend gemacht hat (Fallgruppe 1) oder
  2. mit einer Inanspruchnahme wegen der Rechtsverletzung ernsthaft zu rechnen ist (Fallgruppe 2).
[1] Vgl. Schubert, in Beck'scher Bilanz-Kommentar, § 249 HGB, 12. Aufl., Rz. 24.

6.1.1 Ansprüche i. S. d. Fallgruppe 1

Ansprüche i. S. d. Fallgruppe 1 müssen nicht zwingend gerichtlich anhängig sein. Sie sind bereits dann geltend gemacht, wenn der Rechteinhaber gegenüber dem Rechteverletzer die Absicht äußert, Ansprüche geltend zu machen.[1] Da der Rechteinhaber die Rechtsverletzung kennt, kann auch von einer Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ausgegangen werden.

§ 5 Abs. 3 EStG enthält keine Regelung zur Auflösung von Rückstellungen der Fallgruppe 1, sodass hier wiederum die GoB maßgebend sind. Handelsrechtlich ist eine Auflösung der Rückstellung vorzunehmen, wenn nicht mehr mit einer Inanspruchnahme gerechnet werden muss bzw. die Ansprüche nicht mehr durchsetzbar sind.[2]

[1] Vgl. Schubert, in Beck'scher Bilanz-Kommentar, § 249 HGB, 12. Aufl., Rz. 100.
[2] Vgl. Schubert, in Beck'scher Bilanz-Kommentar, § 249 HGB, 12. Aufl., Rz. 100.

6.1.2 Ansprüche i. S. d. Fallgruppe 2

Die Bildung einer Rückstellung ist nur dann zulässig und geboten, wenn zum Bilanzstichtag ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zu rechnen ist. Dazu ist es nach Auffassung des BFH nicht erforderlich, dass der geschädigte Patentinhaber in irgendeiner Weise reagiert hat. Folglich muss der Bilanzierende auch nicht darlegen und beweisen, dass die Patentverletzung dem Berechtigten bekannt geworden ist oder die Kenntniserlangung unmittelbar bevorsteht.[1] Vielmehr darf für den Fall, dass eine Verbindlichkeit wegen Patentverletzung dem Grunde nach besteht, i. d. R. unter Kaufleuten davon ausgegangen werden, dass die Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger bzw. Rechteinhaber auch wahrscheinlich ist. Etwas anderes gilt, wenn eine Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme im Einzelfall nicht gegeben ist, weil z. B. geschäftliche Gründe einer Inanspruchnahme entgegenstehen.[2]

 
Praxis-Beispiel

Bildung einer Rückstellung für eine Patentverletzung

Die X-GmbH stellt technische Gebrauchsartikel für Haushalt und Handwerk her. In ihrer Bilanz zum 31.12.01 hat sie Rückstellungen wegen der Verletzung fremder Patent- und Schutzrechte i. H. v. 188.478 EUR ausgewiesen.

Im Rahmen einer Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, dass von keinem Rechtsinhaber Ansprüche gegen die X-GmbH geltend gemacht worden sind. Deshalb vertrat der Prüfer die Ansicht, dass hinsichtlich der Rechtsverletzungen nicht ernsthaft mit einer Inanspruchnahme gerechnet werden müsse und deshalb die Rückstellungen zu Unrecht gebildet worden seien. Zudem seien Rückstellungen für dieselben Patentverletzungen schon in den Bilanzen der Vorjahre ausgewiesen gewesen.

Das Finanzamt schloss sich der Auffassung des Außenprüfers an. Nach erfolgloser Klage ging die X-GmbH in Revision. Der BFH[3] hob das Finanzgerichtsurteil auf. Seiner Auffassung nach sind die Rückstellungen zulässig.

Der BFH ordnete die Patentverletzungen im Streitfall der 2. Fallgruppe zu. Die Bildung der streitigen Rückstellungen war daher nur dann zulässig, wenn zum Bilanzstichtag 31.12.01 ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zu rechnen war. Dazu war nach Auffassung des BFH nicht erforderlich, dass der geschädigte Patentinhaber in irgendeiner Weise reagiert hat. Die Klägerin als Verpflichtete musste auch nicht darlegen und beweisen, dass die Patentverletzung dem Berechtigten bekannt geworden ist oder die Kenntniserlangung unmittelbar bevorstand. Wenn eine Verbindlichkeit wegen Patentverletzung dem Grunde nach besteht, so darf im Allgemeinen unter Kaufleuten davon ausgegangen werden, dass die Geltendmachung des Anspruchs...

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