Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksamer Einigungsstellenspruch zur Regelung des betriebliches Eingliederungsmanagements

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Hat der Spruch einer Einigungsstelle eine Regelungsfrage zum Gegenstand, unterliegt er einer umfassenden und zeitlich unbefristeten Rechtskontrolle, wobei die von der Einigungsstelle zu beachtenden wesentlichen Verfahrensvorschriften und die Vereinbarkeit der Entscheidung mit höherrangigem Recht zu überprüfen ist.

2. Die Rechtskontrolle umfasst auch die Prüfung, ob sich die Einigungsstelle bei ihrer Entscheidung im Rahmen ihrer Zuständigkeit gehalten hat; verkennt die Einigungsstelle die Grenzen eines Mitbestimmungsrechts oder geht sie zu Unrecht vom Bestehen eines Mitbestimmungsrechts aus, hat dies die Unwirksamkeit des Spruchs zur Folge.

3. Die Entscheidung der Einigungsstelle unterliegt auch einer Überprüfung des ausgeübten Ermessens; maßgeblich ist, ob die Einigungsstelle die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten hat.

4. Eine rechtswidrige Ermessenausübung liegt vor, wenn die Einigungsstelle von sachfremden Erwägungen ausgeht oder den ihr zustehenden Regelungsspielraum verkennt; eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Einigungsstelle die Belange des Betriebs oder der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt nicht berücksichtigt.

5. Die Rechtswidrigkeit des Spruchs der Einigungsstelle wegen Ermessensfehler muss mit einer Anfechtung geltend gemacht werden, die innerhalb von zwei Wochen nach Zugang des Spruches beim Arbeitsgericht eingegangen ist.

6. Bei der Ausgestaltung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) ist für jede einzelne Regelung zu prüfen, ob ein Mitbestimmungsrecht besteht; ein solches kann sich bei allgemeinen Verfahrensfragen aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, in Bezug auf die Nutzung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und hinsichtlich der Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ergeben, denn § 84 Abs. 2 SGB IX ist eine Rahmenvorschrift im Sinne dieser Vorschrift.

7. Mit dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats kann nicht die Verpflichtung der Arbeitgeberin erzwungen werden, alle gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über das Verfahren des betrieblichen Eingliederungsmanagements zu unterrichten.

8. Es gibt kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, mit dem erzwungen werden kann, dass die Aufgaben des BEM einem festen, auf Dauer gebildeten Gremium übertragen werden.

9. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats umfasst nicht die Durchführung der im BEM-Verfahrens beschlossenen Maßnahmen, die Überprüfung ihrer Wirksamkeit und Qualität, die Begleitung der Beschäftigten bei einer stufenweisen Wiedereingliederung und die Erstellung der jährlichen BEM-Dokumentation; insoweit getroffene Regelungen sind unwirksam.

10. Eine Betriebsvereinbarung ist unwirksam, wenn sie kein betriebliches Eingliederungsmanagement ohne Beteiligung des Betriebsrats zulässt.

 

Normenkette

BetrVG § 75 Abs. 1, § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6-7; SGB IX § 84 Abs. 2; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 10.04.2013; Aktenzeichen 20 BV 15/12)

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 22.03.2016; Aktenzeichen 1 ABR 14/14)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1 wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom 10. April 2013, 20 BV 15/12, abgeändert und festgestellt,

dass der Einigungsstellenspruch "Regelung betriebliches Eingliederungsmanagement" vom 20. September 2012

unwirksam ist.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin verlangt die Feststellung, dass die Entscheidung einer Einigungsstelle zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (im Folgenden: BEM) unwirksam ist.

Die antragstellende Arbeitgeberin ist ein Logistikunternehmen, das in ihrem Betrieb in Hamburg-1 mehr als 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Der Beteiligte zu 2 ist der dort gebildete Betriebsrat.

Forderungen des Betriebsrats zu Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zum Thema BEM lehnte die Antragstellerin ab, weil ihrer Meinung nach der Betriebsrat kein Initiativrecht zur Einführung von generellen Regelungen zum BEM hat. Die Beteiligten einigten sich auf eine Einigungsstelle zu diesem Thema, wobei die Antragstellerin ihren Standpunkt aufrechterhielt.

Zur ersten Sitzung der Einigungsstelle am 21. Februar 2012 legte der Betriebsrat den Entwurf einer Betriebsvereinbarung (Anlage AG 3 zur Antragsschrift, Bl. 55 ff d. A.) vor, über den in der Folgezeit verhandelt wurde, u.a. in einer Sitzung am 29. März 2012 (vgl. Protokoll der Einigungsstellensitzung vom 29. März 2012, Anlage AG 5 zur Antragsschrift, Bl. 73 ff d. A.). In dieser Sitzung vertrat die Antragstellerin erneut die Auffassung, dass nur sie die Entscheidungskompetenz über die BEM-Maßnahmen habe. In einem neuen Entwurf des Betriebsrats (Anlage AG 6 zur Antragsschrift, Bl. 78 ff d. A.) war nicht mehr die Regelung enthalten, dass ein in der Betriebsvereinbarung vorgesehenes "Integrationsteam" über die Durchf...

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