Leitsatz

Bei der Prüfung, ob ein volljähriges behindertes Kind über hinreichende finanzielle Mittel zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts verfügt, ist eine Schmerzensgeldrente grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist die Mutter des 1960 geborenen V, dessen Schwerbehindertenausweis einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen "G", "B" und "H" aufweist. V wohnt in einem eigenen Haushalt in einem Rehabilitationszentrum und erhält seit April 2013 einen monatlichen Lohn von 170,65 EUR sowie aufgrund eines 1977 erlittenen Haftpflichtschadens monatlich eine Ersatzleistung für fiktiven Verdienstausfall in Höhe von 772,32 EUR und eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 204,52 EUR.

Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Oktober 2013 auf, weil V in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Das FG (FG Nürnberg, Urteil vom 10.10.2014, 3 K 361/14, Haufe-Index 7679453, EFG 2015, 931) gab der Klage statt. V sei aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten, die Schmerzensgeldrente gehöre entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht zu den anzusetzenden finanziellen Mitteln.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück, weil Einkünfte und Bezüge des V ohne die Schmerzensgeldrente nicht zum Selbstunterhalt ausreichten.

 

Hinweis

Nach Außerkrafttreten der Grenzbetragsregelung Ende 2011 sind die Höhe des Einkommens und der Bezüge volljähriger arbeitsloser oder in Ausbildung befindlicher Kinder für deren Berücksichtigung unerheblich. Für volljährige behinderte Kinder sind sie aber noch von Bedeutung, da diese nur berücksichtigt werden, wenn sie wegen ihrer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten.

1. Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Kann das Kind hingegen trotz seiner Behinderung selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen, kommt der Behinderung kindergeldrechtlich keine Bedeutung zu. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt fehlt, wenn die finanziellen Mittel des Kindes nicht für den gesamten existenziellen Lebensbedarf ausreichen, der sich aus dem Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt.

2. Der Grundbedarf eines behinderten Kindes bemisst sich bis 2011 an dem für die Einkünfte und Bezüge des Kindes maßgeblichen Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) und ab 2012 am Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG).

3. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunden Kindern nicht entstehen. Die behinderungsbedingten Mehraufwendungen können einzeln nachgewiesen oder mit dem Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden.

4. Beim Abgleich von Lebensbedarf und finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes sind dessen Einkünfte und Bezüge anzusetzen. Schmerzensgeldrenten sind auch nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. nicht zu berücksichtigen, da sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet sind. Dass es auf Herkunft und Zweckbestimmung der Mittel nicht ankomme, hat der BFH nur im Zusammenhang mit Eingliederungshilfen gemäß §§ 53 f. des SGB XII ausgeführt.

Das Schmerzensgeld nimmt – unabhängig davon, ob es in einem Einmalbetrag oder als Rente gezahlt wird – eine Sonderstellung innerhalb der Einkommens- und Vermögensarten ein (BVerfG‐Beschluss vom 11.7.2006, 1 BvR 293/05, BVerfGE 116, 229, betr. Anrechnung von Schmerzensgeld auf Asylbewerberleistungen). Es soll dem Geschädigten einerseits einen Ausgleich für Schäden und Lebenshemmungen bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, und andererseits Genugtuung verschaffen; der Schädiger, der dem Geschädigten über den Vermögensschaden hinaus das Leben schwer gemacht hat, soll es ihm durch seine Leistung wieder leichter machen (BGH‐Beschluss vom 6.7.1955, GSZ 1/55, BGHZ 18, 149). Schmerzensgeld bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes zu berücksichtigen, widerspräche seiner Sonderfunktion, immaterielle Schäden abzumildern, und dessen Ausgleichsfunktion; es hat insoweit gerade nicht die Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen. Der Sonderstellung des Schmerzensgeldes wird auch in anderen Rechtsgebieten Rechnung getragen: Schmerzensgeldrenten bleiben bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 11a Abs. 2 SGB II, im Rahmen der Sozialhilfe nach § 83 Abs. 2 SGB XII und bei der Bestimmung des Leistungsumfangs der Kriegsopferfürsorge unberücksichtigt (§ 25d Abs. 4 Satz 2 BVG). Mögliche Abweichungen im Unterhaltsrecht (§ 1602 BGB) sind insoweit unerheblich.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 13.4.2016 – III R 28/15

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