Das FG Baden-Württemberg hat Zweifel, ob die Vorschriften des zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft bestehenden Freizügigkeitsabkommens (FZA)[2], insbesondere dessen Präambel sowie Art. 1, 2, 4, 6, 7, 16 und 21 und Anhang I Art. 9 mit Unionsrecht vereinbar sind, da bei Wegzug in die Schweiz die Steuererhebung auf den fiktiven Veräußerungsgewinn ohne eine Stundungsmöglichkeit nach § 6 Abs. 5 AStG sofort greift.[3]

Im zugrundeliegenden Urteilsfall war ein deutscher Staatsangehöriger, der zu 50 % an einer schweizerischen GmbH beteiligt ist, zum 1.3.2011 von Deutschland in die Schweiz verzogen. Das Finanzamt wandte im Jahr des Wegzugs § 6 Abs. 1 AStG an und unterwarf einen fiktiven Veräußerungsgewinn i. S. des § 17 EStG i. V. m. § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG der deutschen Besteuerung. (Die Höhe des ermittelten Vermögenszuwachses ist zwischenzeitlich zwischen den Beteiligten unstreitig.) Unter Berufung auf das FZA beantragte der Kläger jedoch, die Einkünfte i. S. d. § 6 AStG i. V. mit § 17 EStG in Höhe von 0 EUR festzusetzen.

Urteil des Finanzgerichts:

Nach Auffassung des FG Baden-Württemberg erfüllt der Kläger unstreitig die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG. Eine zinslose Stundung kommt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 6 Abs. 5 AStG nicht in Betracht. Auch das DBA Schweiz beschränkt die Besteuerung des Vermögenszuwachses nicht. Es kommt zwar zu keiner Doppelbesteuerung, da nach dem nationalen Recht der Schweiz eine Besteuerung des Verkaufs von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen grundsätzlich nicht vorgesehen ist; die Besteuerung erfolgte daher zu Recht.

Es könnte jedoch ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegen. Zwar ist die Schweiz weder EU- noch EWR-Mitgliedstaat. Nach herrschender Meinung ist jedoch das FZA mit den im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) garantierten Freizügigkeitsrechten vergleichbar.

§ 6 AStG könnte die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) und die allgemeine Freizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV) beschränken.

Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um entweder von seinem Recht auf Freizügigkeit oder von seinem Recht auf Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, stellen nach Auffassung der FG-Richter daher Beeinträchtigungen dieser Freiheiten dar. Ebenso seien als Beschränkungen der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen, so auch die Wegzugsbesteuerung, anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheiten unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen. Die Wegzugsbesteuerung habe für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung und beschränke europarechtlich garantierte Freiheiten sowohl bei beruflich als auch bei privat veranlasster Wohnsitzverlegung.

Für den vorlegenden Senat ist es zweifelhaft, ob ein Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung der Rechte aus dem FZA besteht. In Betracht kommen:

  1. Wirksamkeit der Steueraufsicht und der steuerlichen Kontrolle;
  2. Sicherstellung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten nach dem Territorialitätsprinzip, verbunden mit einer zeitlichen Komponente.

Die Entscheidung des EuGH

[4]

Wie in den vorgenannten Entstrickungsentscheidungen des EuGH ist eine mehrstufige Prüfung erforderlich:

  • Vorliegen einer Diskriminierung dem Grunde nach?

    Der Kläger war ein deutscher Staatsangehöriger, der sich in der Schweiz niedergelassen hatte, um dort im Rahmen einer Gesellschaft eine selbstständige Tätigkeit auszuüben. Damit war der Anwendungsbereich von Art. 12 des Anhangs I des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) eröffnet und der Kläger konnte sich auf den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des FZA auch gegenüber Deutschland berufen. Der EuGH stellte fest, dass durch § 6 AStG der Kläger bei seinem erwerbsbedingten Wegzug in die Schweiz gegenüber einem in Deutschland bleibenden Steuerpflichtigen benachteiligt wurde, mithin § 6 AStG sein Niederlassungsrecht behindere.

  • Prüfung von Rechtfertigungsgründen

    Diese Ungleichbehandlung kann nur durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden, wenn diese den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten, d. h. nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist. Insoweit ist zwar die Steuerfestsetzung im Zeitpunkt des Wegzugs zulässig, jedoch nicht die sofortige Einziehung derselben. Insoweit weist der EuGH auf die bilaterale Möglichkeit des Austauschs von Steuerinformationen gemäß Art. 27 DBA-Schweiz (große Auskunftsklausel bzw. große Amtshilfe) hin, nach der Deutschland auch nach dem Wegzug die notwenigen Informationen über eine Veräußerung der Geschäftsanteile erhalten könne.

  • Angemessenheitsprüfung

    Der EuGH entschied auch in diesem Verfah...

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