6.1 Anwendungsbereich: Qualifikationskonflikte

§ 50 Abs. 9 Satz 1, 1. Alt. EStG verweist bei Qualifikationskonflikten das Besteuerungsrecht ebenfalls an den Wohnsitzstaat (Deutschland) zurück. Qualifikationskonflikte haben ihre Ursache in einer nicht übereinstimmenden Abkommensanwendung durch die Vertragsstaaten; sie können unterschiedliche Ursachen haben.

§ 50d Abs. 9 Satz 1, 1. Alt. EStG ist faktisch die Umsetzung der Auslegung des OECD-MA 2000.[1] Danach vermeidet der Ansässigkeitsstaat eine nach Durchführung eines Verständigungsverfahrens verbleibende Doppelbesteuerung (positiver Qualifikationskonflikt) grundsätzlich durch Anrechnung der ausländischen Steuer nach § 34c Abs. 1 EStG. Bei positiven Qualifikationskonflikten folgt der Ansässigkeitsstaat der Qualifikation des Quellenstaats (sog. Rechtsfolgenverkettung). Danach wird die Doppelbesteuerung nach der Methode vermieden, die sich dafür im Methodenartikel des jeweiligen DBA für diese Einkünfte ergibt. In Fällen doppelter Nichtbesteuerung oder zu niedriger Besteuerung (negativer Qualifikationskonflikt) unterbleibt die Freistellung. Eine etwaige ausländische Steuer wird nach § 34c Abs. 1 EStG angerechnet.

Diese Auslegung des OECD-MA wurde bislang von der Finanzverwaltung auch auf DBA angewendet, die im Zeitpunkt der Änderung des OECD-MA bereits bestanden haben.[2]

Nimmt der andere Staat jedoch sein Besteuerungsrecht nicht oder nur im eingeschränkten Umfang wahr, fällt das Besteuerungsrecht auf Deutschland zurück. Die Regelung des § 50d Abs. 9 Satz 1, 1. Alt. EStG ist rückwirkend in allen noch nicht bestandskräftigen Fällen anzuwenden.

In der Literatur wird allerdings die Auffassung vertreten, dass § 50d Abs. 9 EStG bei nur zum Teil steuerfreien Einkünften nicht anwendbar ist.[3]

[1] OECD-Musterabkommen, Ziffer 31.1 bis 32.7 zu Art. 23.
[3] Meretzki, IStR 2008 S. 23.

6.2 Einzelheiten des Tatbestandsmerkmals der Qualifikationskonflikte

Qualifikationskonflikte können zu einer Doppelbesteuerung (positiver Qualifikationskonflikt) oder einer Doppelfreistellung (negativer Qualifikationskonflikt) führen. Qualifikationskonflikte resultieren aus einer nicht übereinstimmenden Anwendung der Vorschriften eines DBA durch die Vertragsstaaten; dies kann unterschiedliche Ursachen haben. Die VerwGrSPG[1] unterscheiden 3 verschiedene Arten von Qualifikationskonflikten.

6.2.1 Sachverhalts- oder Subsumtionskonflikt

Als Subsumsionskonflikt kann eine Beurteilungslage charakterisiert werden, bei der die Rechtsanwender (Steuerpflichtige, Steuerberater, Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit) in den beteiligten Vertragsstaaten von unterschiedlichen Sachverhalten ausgehen.

 
Praxis-Beispiel

Subsumtionskonflikt

Ein deutsches Unternehmen übt eine Tätigkeit im anderen Staat durch eine dort gelegene Personengesellschaft aus. Der eine Staat betrachtet die Tätigkeit als Hilfstätigkeit, der andere als Haupttätigkeit (vgl. Art. 5 Abs. 4 OECD-MA).

Lösung:

Siehe Tz. 6.2.2[2] (identische Beurteilung der beiden ersten Fallgruppen).

[1] BMF, Schreiben v. 16.4.2010, IV B 2 – S 1300/09/10003, BStBl 2010 I S. 354 und BMF, Schreiben v. 26.9.2014, BStBl I, 2014 S. 1258, Tz. 4.1.3.1 ff.

6.2.2 Auslegungskonflikt

Entsprechendes gilt, wenn die Rechtsanwender in den Vertragsstaaten Abkommensbestimmungen unterschiedlich auslegen.

 
Praxis-Beispiel

Auslegungskonflikt

Ein in Deutschland ansässiger Musiker enthält als Mitglied einer Musikband (= GbR) Vergütungen für CD-Aufnahmen, die während einer Konzertreise im anderen Staat entstanden sind. Deutschland betrachtet die Vergütungen als Lizenzgebühren i. S. d. Art. 12 OECD-MA, der andere als Einkünfte aus künstlerischer Tätigkeit i. S. d. des Art. 17 OECD-MA, die im anderen Staat ausgeübt wurde.

Lösung:

Sowohl für Sachverhalts-, Subsumtions- oder Auslegungskonflikte (= allgemeine Qualifikations- und Zurechnungskonflikte) muss differenziert werden, ob eine DBA-spezifische Lösung erfolgt oder entsprechend des BMF-Schreibens vorzugehen ist.

  1. Regelung im DBA

    Soweit ein DBA für den Fall von Qualifikations-/Zurechnungskonflikten eine switch-over-Klausel enthält[1], geht der Ansässigkeitsstaat – i. d. R. nach einem erfolglosem Verständigungsverfahren – von der Freistellungs- auf die Anrechnungsmethode über: Im Falle der Doppelbesteuerung rechnet der Ansässigkeitsstaat die ausländische Steuer an. Im Falle der Doppelfreistellung unterlässt er die Freistellung; eine etwaige ausländische Steuer (Besteuerung zu einem nach dem DBA begrenzten Steuersatz) wird entsprechend § 34c Abs. 1 oder Abs. 2 i. V. m. Abs. 6 EStG berücksichtigt.[2]

  2. DBA ohne Regelung

    Enthält ein DBA für den Fall von Qualifikations-/Zurechnungskonflikten keine switch-over-Klausel, sieht das BMF-Schreiben folgende Lösung vor:

    Bei Sachverhalts- oder Subsumtionskonflikten und Auslegungskonflikten ist in dem – wohl allein praktischen – Fall des positiven Qualifikationskonflikts ein Verständigungsverfahren durchzuführ...

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