Rz. 239

Bedenken gegen die Rechtsgültigkeit des § 50d Abs. 10 EStG können sich daraus ergeben, dass es sich um eine Verdrängung der Regelungen eines DBA handelt, also ein Treaty Override (Rz. 3ff.). Die Frage, ob es sich bei der Vorschrift um ein Treaty Override handelt, ist umstritten. Gegen den Charakter als Treaty Override spricht, dass der Vorschrift die charakteristische Bestimmung fehlt, die Vorschrift solle "ungeachtet der Vorschriften eines DBA" gelten. Auch die Begründung des Gesetzentwurfs spricht davon, dass die Vorschrift nicht abkommensverdrängend sein solle.[1] Diese Auffassung beruht darauf, dass sie nach ihrem Wortlaut nur dann gelten soll, wenn das Abkommen keine die Sondervergütungen betreffende ausdrückliche Regelung enthält. Daraus kann auf den Willen des Gesetzgebers geschlossen werden, nicht Vorschriften des DBA zu verdrängen, sondern lediglich eine Lücke auszufüllen, die in den Regelungen eines DBA besteht.[2]

 

Rz. 240

Allein hieraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Vorschrift nicht abkommensverdrängend ist. Die Vorschrift soll bereits dann gelten, wenn das DBA keine "ausdrückliche" Vorschrift für die Sondervergütungen enthält. Der die Vertragsstaaten bindende Inhalt eines DBA ergibt sich aber nicht nur aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Vertrags, sondern aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen und ist anhand einer autonomen Auslegung unter Anwendung der in Art. 31ff. Wiener Übereinkunft aufgeführten Auslegungsregeln zu bestimmen.[3] Ein nationales Gesetz, das gegen den durch Auslegung gewonnenen Inhalt eines DBA verstößt, ist ebenso abkommensverdrängend wie ein Gesetz, das eine gegen den ausdrücklichen Wortlaut eines DBA gerichtete Regelung enthält.[4]

 

Rz. 241

Für die Frage der Vereinbarkeit mit einem DBA ist daher maßgeblich, ob die Regelung des § 50d Abs. 10 EStG nur eine zulässige Ausfüllung einer Lücke im DBA ist, oder ob sie als abkommensverdrängende Vorschrift eine im DBA enthaltene, durch Auslegung vermittelte Regelung verdrängt.

 

Rz. 242

Die DBA enthalten regelmäßig, auch wenn keine "ausdrückliche" Vorschrift für Sondervergütungen enthalten ist, insoweit keine Lücke, sondern eine Regelung, die durch Auslegung gefunden werden kann. Die Rspr. (Rz. 209) hat eine solche Regelung in den DBA durch Auslegung gefunden und die Frage daher überzeugend geklärt. Sondervergütungen sind danach im System der DBA keine eigenständige Einkunftsart und fallen auch nicht unter Art. 7 OECD-MA, sondern unter den Zinsartikel (Art. 11 OECD-MA) bzw. den Artikel über Lizenzgebühren (Art. 12 OECD-MA). Diese Auslegung entspricht auch der internationalen Übung, da die anderen Staaten, außer Österreich, das Institut der Sondervergütungen nicht kennen. Für die anderen Staaten kommt also eine andere Einordnung der Sondervergütungen als die unter Art. 11, 12 OECD-MA nicht in Betracht. Soweit das jeweilige DBA keine abweichende Regelung für Sondervergütungen enthält, liegt also keine Lücke vor, sondern eine dem Normalfall entsprechende Einordnung als Zinsen oder Lizenzgebühren bzw., bei der Zurverfügungstellung von Grundstücken, als Miet- und Pachtzinsen.[5] Fehlt in dem DBA eine besondere Bestimmung für Sondervergütungen, ist die Folge hiervon also nicht eine Lücke in dem Vertrag, sondern beruht auf dem Umstand, dass die vertragsschließenden Parteien entweder eine Sonderregelung nicht für erforderlich hielten, weil die Einordnung unter Art. 11, 12 OECD-MA ihren Interessen entsprach, oder dem Umstand, dass Deutschland eine seinen Interessen besser entsprechende Regelung in den Verhandlungen nicht durchsetzen konnte. Damit enthält das DBA für die Sondervergütungen eine Regelung, wie sie vom BFH durch Auslegung gefunden wurde. Eine Lücke in den Abkommen liegt nicht vor. Damit ergibt sich, dass § 50d Abs. 10 EStG seinem materiellen Charakter nach abkommensverdrängend ist.[6]

 

Rz. 243

Eine abkommensverdrängende Regelung widerspricht nicht grundsätzlich höherrangigem Recht, d. h. EU-Recht oder Verfassungsrecht (vgl. allgemein Rz. 3ff.). Ein solcher Verstoß kann nur in Betracht kommen, wenn diese Regelung in ein Grundrecht des GG eingreift und keine Rechtfertigung hierfür besteht. Nach der hier in Rz. 9 vertretenen Ansicht stellt ein Treaty Override, das lediglich zur Verdrängung der Freistellungs- durch die Anrechnungsmethode führt, oder eine Subject-to-tax-Klausel, die die effektive Einmalbesteuerung sicherstellen soll, keinen Verstoß gegen höherrangiges Recht dar. Ein Treaty Override wie § 50d Abs. 10 EStG führt aber nicht lediglich zu einem Wechsel zwischen Freistellungs- und Anrechnungsmethode und auch nicht lediglich zu einer effektiven Einmalbesteuerung. Vielmehr handelt es sich um eine Regelung, durch die Deutschland das Besteuerungsrecht für bestimmte Gewinne in Anspruch nimmt, das nach dem durch Auslegung ermittelten Inhalt des jeweiligen DBA dem anderen Staat zusteht. Damit droht für den Fall der Sondervergütungen, die von einer inländischen Personengesellschaft an einen im Ausland ansässigen Gesellsch...

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