Rz. 155

Der EuGH hat in einer grundsätzlichen Entscheidung Stellung zu der Frage genommen, inwieweit § 50d Abs. 3 EStG der Mutter-Tochter-Richtlinie entspricht und sich im Rahmen der Grundfreiheiten hält.[1]

Die Entscheidung ist zwar zu der in den Jahren 2007 und 2008 geltenden Fassung des § 50d Abs. 3 EStG ergangen, lässt jedoch auch Rückschlüsse auf die Vereinbarkeit des § 50d Abs. 3 EStG in der gegenwärtigen Fassung mit dem Europarecht zu. Das Verfahren für das Jahr 2013, für das § 50d Abs. 3 EStG in der heutigen Fassung galt, hat der EuGH am 14.6.2018 entschieden. § 50d Abs. 3 EStG 2012 ist verfassungswidrig.[2]

Als Prüfungsmaßstab zieht der EuGH auch die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) heran.[3] Die Mutter-Tochter-Richtlinie sah für die Streitjahre eine Beteiligungsgrenze von 15 % vor (jetzt: 10 %). Dies genüge nicht zwangsläufig für einen "sicheren Einfluss" auf die Gesellschaft, und damit die Anwendung der Niederlassungsfreiheit. Da aber in den Streitfällen jeweils Beteiligungen von mehr als 25 % bestanden, sah der EuGH auch den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit als eröffnet an. Ob daneben auch die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV), anwendbar sei hat der EuGH[4] nicht problematisiert. Aus der Formulierung, dass "auch" die Niederlassungsfreiheit anwendbar sei, kann man schließen, dass der EuGH den Schutzbereich beider Grundfreiheiten für eröffnet hält.

Hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Gewinnausschüttung an eine deutsche Muttergesellschaft mit der an eine ausl. Muttergesellschaft nimmt der EuGH eine vergleichbare Situation an, da Deutschland für beide Fälle sein Besteuerungsrecht ausübt.[5]

 

Rz. 156

Der EuGH prüft § 50d Abs. 3 EStG anhand des Rechtfertigungsgrunds der Missbrauchsvermeidung. Danach ist es nicht zulässig, einen Missbrauch aufgrund allgemeiner vorgegebener Kriterien zu prüfen. Der Vorgang müsse vielmehr als Ganzes und individuell geprüft werden. Es müsse zumindest ein Anfangsbeweis oder ein Indiz für Missbrauch vorliegen. Das werde durch § 50d Abs. 3 EStG nicht berücksichtigt. Auch sei kein Gegenbeweis vorgesehen.[6] Hieraus schließt der EuGH, dass § 50d Abs. 3 S. 1 EStG, wonach die Vorschrift eingreift, wenn an der entlastungsberechtigten Gesellschaft Gesellschafter beteiligt sind, denen die Entlastung bei direkter Beteiligung nicht zustünde, nicht der Verhinderung von Missbräuchen dient. Die Beteiligung solcher Personen an der entlastungsberechtigten Gesellschaft stellt nicht grundsätzlich eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion dar.[7] Gegen EU-Recht verstößt auch § 50d Abs. 3 S. 3 EStG, wonach eine rein vermögensverwaltende Tätigkeit nicht begünstigt ist. Der Umstand, dass die Einkünfte der entlastungsberechtigten Gesellschaft nur aus Vermögensverwaltung stammen, lasse keinen Schluss auf einen Missbrauch zu.[8] Schließlich verstoße auch § 50d Abs. 3 S. 2 EStG mit dem Verbot der Merkmalsübertragung gegen europäisches Recht. Die Prüfung eines Missbrauchs erfordere in jedem Einzelfall eine Berücksichtigung der organisatorischen, wirtschaftlichen und sonst beachtlichen Merkmale des Konzerns.[9]

 

Rz. 157

Der BMF hat die Ausführungen des EuGH[10] auch für die ab Vz 2012 geltende Fassung des § 50d Abs. 3 EStG als verbindliche Auslegung des EU-Rechts akzeptiert und Grundsätze für die unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift erlassen,[11]

Die Umsetzung der EuGH-Entscheidung ist aber nicht konsequent und umfassend erfolgt, sodass die Vorschrift weiterhin europarechtliche Defizite aufweist.[12] Außerdem genügt ein BMF-Schreiben zur Beseitigung der Europarechtswidrigkeit der Vorschrift nicht. Vielmehr ist eine Gesetzesänderung erforderlich.

 

Rz. 158

Das BMF-Schreiben gilt nur für die Entlastung von der KapESt nach § 43b EStG, weil der EuGH[13] nur insoweit entschieden hatte. Damit lässt der BMF drei Fallgruppen ungeregelt. § 43a EStG erfasst nur die Fälle der Mutter-Tochter-Richtlinie und damit nur das Verhältnis zu EU-Staaten. Das BMF-Schreiben erfasst daher die EWR-Staaten nicht. Da der EuGH seine Entscheidung auch auf die Grundfreiheiten gestützt hat, ist sie jedoch auch für EWR-Staaten maßgeblich. Das berücksichtigt das Schreiben der Finanzverwaltung[14] nicht. Da der EuGH den § 50d Abs. 3 EStG nicht nur an der Mutter-Tochter-Richtlinie gemessen hat, sondern auch an den Grundfreiheiten, stellt sich zweitens die Frage, ob nach DBA entlastungsberechtigte Gesellschaften in Drittstaaten sich auf die EuGH-Entscheidung berufen können. Der EuGH hat zwar die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) herangezogen, doch lässt sich aus der Entscheidung ableiten, dass auch der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet ist, weil die Entlastung von der KapESt regelmäßig nur eine Beteiligung von 10 % voraussetzt, die nicht zwingend für einen "sicheren Einfluss" genügt. Für die Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit gelten aber die gleichen Erwägungen, wie sie der EuGH zur Niederlassungsfreiheit angestellt hat.[15] M. E. sind die Grundsätze der Entsche...

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