rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld. Beibehaltung des inländischen Wohnsitzes von Kindern während eines mehrjährigen Schulbesuchs in Tunesien

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zwar teilen minderjährige Kinder grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern, weil sie über ihre Haushaltszugehörigkeit eine abgeleitete Nutzungsmöglichkeit besitzen und damit zugleich die elterliche Wohnung i. S. d. § 8 AO innehaben. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall, sondern hängt wiederum maßgeblich von den objektiven Umständen des Einzelfalls ab.

2. Der Inlandswohnsitz der Kinder besteht bei mehrjährigem Schulbesuch in Tunesien nur fort, wenn der das Kind entweder seinen Lebensmittelpunkt weiterhin im Inland hat (also keine Wohnsitzbegründung im Ausland) oder es zwar keinen einheitlichen Lebensmittelpunkt mehr hat, aber nunmehr über zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse (zwei Wohnsitze) verfügt.

3. Zum einen müssen die objektiven Wohnverhältnisse im Inland so geartet sein, dass sie die Möglichkeit eines längeren Wohnens des Kindes in der Wohnung der Eltern bieten. Zum anderen darf die Anwesenheit des Kindes in der elterlichen Wohnung nicht nur Besuchscharakter haben, wie das bei Aufenthalten von jeweils zwei bis drei Wochen pro Jahr der Fall ist.

4. Die räumliche Trennung während des Schulbesuchs der Kinder in Tunesien bedingt für sich allein noch keine Auflösung der familiären Wohn- und Lebensgemeinschaft im Inland.

 

Normenkette

EStG § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 S. 3; AO § 8

 

Tenor

1. Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 19. Dezember 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 2012 wird für die Dauer der Rechtshängigkeit der Hauptsacheklage beim Finanzgericht München in Höhe von 1.054,66 EUR wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit von der Vollziehung ausgesetzt.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

I.

Der seit Jahren im Inland arbeitende und verheiratete Antragsteller stammt aus Tunesien. Er ist Vater der in Deutschland geborenen Kinder R. (geb. am 14. Dezember 2001), I. (geb. am 17. Juli 2003) und S. (geb. am 15. April 2006). Für seine Kinder bezog er bis August 2011 das volle Kindergeld, weil die Kinder bis dahin ausschließlich ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatten. Der Antragsteller, seine Ehefrau und seine Kinder besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit.

Am 23. September 2011 teilte die Ehefrau des Antragstellers – unter der Anschrift: X im Inalnd – der Antragsgegnerin – der Familienkasse – mit, dass sie mit den Kindern mittlerweile in Tunesien lebe. Dort besuchten die Kinder R. und I. seit 15. September 2011 die Schule, S. ab Oktober 2011 die Vorschule. Die Kinder und sie blieben in X weiterhin gemeldet. Sie kämen bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Deutschland zurück, da die Kinder hier Deutschkurse besuchen sollten und der Antragsteller weiterhin in Deutschland lebe und arbeite. Den dem Schreiben beiliegenden Einschreibungsbestätigungen der Grundschule für den Stadtteil … (in Tunesien) … vom 6. September 2011 ist zu entnehmen, dass R. im dritten Jahr des Schuljahres 2011/2012 und I. im zweiten Jahr des Schuljahres 2011/2012 dort eingeschrieben sind. Am 27. Oktober 2011 stellte der Antragsteller gegenüber der Familienkasse klar, dass die Kinder seit 1. September 2011 in Tunesien lebten. Seine Ehefrau halte sich mit den Kindern abwechselnd in Deutschland und Tunesien auf.

Mit dem Kindergeldantrag vom 17. November 2011 legte der Antragsteller eine Bescheinigung seiner Arbeitgeberin vom 22. November 2011 über seine seit 17. August 2000 unbefristete und fortdauernde Anstellung im Inland und Bestätigungen der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung aller Familienangehörigen vom 18. November 2011 vor.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2011 hob die Familienkasse nach erfolgter Anhörung des Antragstellers die Festsetzung des Kindergelds für die Kinder gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab September 2011 auf und setzte ab November 2011 Kindergeld für die Kinder in Höhe von monatlich 30,67 EUR nach dem deutsch-tunesischen Abkommen über soziale Sicherheit fest. Für den Zeitraum September 2011 bis Oktober 2011 forderte die Familienkasse unter Berücksichtigung des Anspruchs auf Kindergeld nach dem deutsch-tunesischen Abkommen über soziale Sicherheit den überzahlten Betrag in Höhe von 1.054,66 EUR [1.116 EUR abzüglich 61,34 EUR (= 2 Monate × 5,11 EUR für das erste Kind und 2 Monate × 2 × 12,78 EUR für das zweite/dritte Kind)] zurück.

Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 2012 als unbegründet zurück, weil die Kinder seit 1. September 2011 in Tunesien lebten und dort die Schule besuchten. Sowohl die Kindsmutter als auch die Kinder hätten ihren Lebensmittelpunkt und damit ihren Wohnsitz seither in Tunesien, also außerhalb der Europäischen Union und des europäischen Wirtschaftsraums. Kurzzeitige Aufenthalte in Deutschland führten nicht zur Beibehaltung des Wohnsitzes, da ...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge