rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf Einkommensteuervorauszahlungen: generelle Zulässigkeit, Verfassungsmäßigkeit, Beginn und Ablauf der Festsetzungsfrist. Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 AO

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Einkommensteuer-Vorauszahlungen sind Steuern i. S. d. § 3 Abs. 1 AO, die als solche Gegenstand einer Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 AO sein und folglich zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen führen können. Der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung ist in Bezug auf verkürzte Vorauszahlungen daher erfüllt, wenn der Steuerpflichtige in der Jahressteuererklärung Einkünfte aus Kapitalvermögen verschweigt und dadurch bewirkt, dass die Einkommensteuer-Vorauszahlungen für einen nachfolgenden Veranlagungszeitraum von der Finanzbehörde zu niedrig festgesetzt werden.

2. Die Festsetzungsfrist für die Festsetzung von Zinsen auf hinterzogene Vorauszahlungen beginnt bei system- und verfassungskonformer Auslegung der maßgebenden Vorschriften mit Ablauf des Tages, an dem gem. §§ 170 Abs. 1, 169 Abs. 2 S. 2 AO letztmals geänderte Vorauszahlungsbescheide hätten erlassen werden können. § 37 Abs. 3 S. 3 EStG bleibt insoweit außer Betracht; die Vorschrift enthält keine Spezialvorschrift zur Regelung der Festsetzungsverjährungsfristen für Vorauszahlungen, die § 169 Abs. 2 S. 2 AO vorgeht. Der Senat folgt nicht der Auffassung, dass die Verjährung der Hinterziehungszinsen auf die Vorauszahlungen zusammen mit der Verjährung der Hinterziehungszinsen auf die Jahressteuer eintrete (so wohl FG Münster, Urteil v. 20.4.2016, 7 K 2354/13 E).

3. Für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf hinterzogene Vorauszahlungen ist nicht erforderlich, dass die hinterzogene Steuer zuvor (zutreffend) festgesetzt wurde. Die hinterzogene Steuer i. S. d. § 235 AO berechnet sich aus der Differenz zwischen den tatsächlich festgesetzten Vorauszahlungen und den Vorauszahlungen, die gem. § 37 Abs. 3 EStG bei stets pflichtgemäßen und wahrheitsgemäßen Angaben festgesetzt worden wären (vgl. FG Münster, Urteil v. 20.4.2016, 7 K 235413 E).

4. Der Zinslauf der Hinterziehungszinsen auf Einkommensteuer-Vorauszahlungen beginnt zum Zeitpunkt der Fälligkeit nach § 37 Abs. 1 S. 1 EStG bzw. in Fällen, in denen eine nachträgliche Festsetzung/Anpassung von Vorauszahlungen nach § 37 Abs. 3 S. 3 EStG erfolgte, zum Zeitpunkt der Festsetzung. Der Zinslauf ist im Wege einer teleologischen Reduktion auf den Zeitraum bis zum Beginn der Vollverzinsung nach § 233a AO zu begrenzen.

5. Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf hinterzogene Vorauszahlungen verletzt nicht den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gemäß Art. 3 GG.

6. Gegen den in § 238 Abs. 1 S. 1 AO festgelegten Zinssatz von einhalb Prozent für jeden Monat bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

 

Normenkette

AO § 235 Abs. 1-2, 3 S. 1, Abs. 4, § 3 Abs. 1 S. 1, § 370 Abs. 1 Nrn. 1-2, Abs. 4, § 239 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 170 Abs. 1, § 169 Abs. 2 S. 2, § 233a Abs. 1 S. 1, Abs. 2; EStG § 37 Abs. 3 S. 3; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 28.09.2021; Aktenzeichen VIII R 18/18)

BFH (Urteil vom 10.08.2021; Aktenzeichen VIII R 18/18)

 

Tenor

1. Die Bescheide über Hinterziehungszinsen auf Vorauszahlungen zur Einkommensteuer für das 1. – 4. Quartal 2004 werden aufgehoben.

2. Die Bescheide über Hinterziehungszinsen auf Vorauszahlungen zum Solidaritätszuschlag werden aufgehoben.

3. Die Bescheide über Hinterziehungszinsen auf Vorauszahlungen zur Einkommensteuer werden wie folgt geändert:

Quartal

Zinsen

I

2005

216,00 EUR

II

2005

189,00 EUR

IV

2006

114,00 EUR

I

2007

48,00 EUR

II

2008

71,00 EUR

I

2010

66,00 EUR

I

2012

38,00 EUR

II

2012

31,00 EUR

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

5. Die Kosten des Verfahrens tragen zu 68% der Beklagte und zu 32% die Kläger.

6. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

7. Die Revision wird zugelassen.

8. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, haben die Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Kläger nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet haben, §§ 151 FGO i.V.m. 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.

 

Tatbestand

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf Einkommensteuervorauszahlungen.

Die Kläger erstatteten mit Schreiben vom 29. Dezember 2014 und 30. Januar 2015 Selbstanzeige, mit der sie bisher nicht versteuerte Kapitalerträge aus einer Geldanlage bei der … Bank Liechtenstein für die Jahre 2003 – 2013 nacherklärten. Der Beklagte änderte daraufhin die Steuerbescheide für diese Veranlagungszeiträume und setzte mit Bescheid vom 8. August 2016 für die hinterzogenen Steue...

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