Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorsteuerabzug, Vorsteuerabzug aus einer unberechtigt ausgestellten Rechnung, Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen verspäteter Berichtigung des Vorsteuerabzugs, Neutralitätsgrundsatz, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Es läuft nicht dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zuwider, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats gegen einen Steuerpflichtigen, der seine Verpflichtung, Umstände, die für die Berechnung der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer von Bedeutung sind, zu verbuchen und auszuweisen, nicht innerhalb der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Frist erfüllt hat, eine Verwaltungsgeldstrafe verhängt, die dem Betrag der nicht rechtzeitig entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, wenn dieser Steuerpflichtige das Versäumnis in der Folge behoben und die geschuldete Steuer in voller Höhe zuzüglich Zinsen entrichtet hat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung der Art. 242 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zu prüfen, ob angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens, insbesondere angesichts der Zeitspanne, in der die Unregelmäßigkeit berichtigt wurde, der Schwere dieser Unregelmäßigkeit und einer etwaig vorliegenden Steuerhinterziehung oder Umgehung der geltenden Gesetze, die dem Steuerpflichtigen anzulasten wäre, die Höhe der verhängten Verwaltungsstrafe nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die in der Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und in der Vermeidung von Steuerhinterziehung bestehen.

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 242, 273

 

Beteiligte

RODOPI-M 91

Rodopi-M 91 OOD

Teritorialna direktsia na Natsionalnata Agentsia za Prihodite - Plovdiv

 

Verfahrensgang

Administrativen sad Plovdiv (Bulgarien) (Urteil vom 15.05.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 243/7)

 

Tatbestand

„Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit ‐ Verspätete Verbuchung und verspäteter Ausweis der Annullierung einer Rechnung ‐ Behebung des Verstoßes ‐ Zahlung der Steuer ‐ Staatshaushalt ‐ Fehlende Schädigung ‐ Verwaltungsrechtliche Sanktion“

In der Rechtssache C-259/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Plovdiv (Bulgarien) mit Entscheidung vom 15. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Mai 2012, in dem Verfahren

Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite ‐ Plovdiv

gegen

Rodopi-M 91 OOD

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Jarašiūnas sowie der Richter A. Ó Caoimh und C. G. Fernlund (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite ‐ Plovdiv, vertreten durch S. Marinov, director,

‐ der Rodopi-M 91 OOD, vertreten durch M. Ekimdzhiev, K. Boncheva, G. Chernicherska und S. Hadzhieva, advokati,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Soulay und D. Roussanov als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite ‐ Plovdiv (Gebietsdirektion der Nationalen Agentur für Einnahmen für die Stadt Plovdiv ‐ im Folgenden: Teritorialna direktsia) und der Rodopi-M 91 OOD (im Folgenden: Rodopi) über eine gegen Rodopi verhängte Geldstrafe wegen verspäteter Verbuchung und verspäteten Ausweises der Annullierung einer Rechnung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“

Rz. 4

Art. 186 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 184 und 185 fest.“

Rz. 5

Art. 242 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Jeder Steuerpflichtige hat Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und die Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen.“

Rz. 6

Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaate...

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