Entscheidungsstichwort (Thema)

Umsatzsteuer, Unternehmereigenschaft, wirtschaftliche Tätigkeit, Holzlieferungen zur Abmilderung von Sturmschäden

 

Leitsatz (amtlich)

1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Holzlieferungen, die von einer natürlichen Person zur Abmilderung der Auswirkungen eines Ereignisses höherer Gewalt durchgeführt werden, zur Nutzung eines körperlichen Gegenstands zählen, die als „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu beurteilen ist, sofern diese Lieferungen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen erfolgen. Das nationale Gericht hat bei der Feststellung, ob die Nutzung eines körperlichen Gegenstands, etwa eines Waldes, zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen erfolgt, sämtliche Gegebenheiten des Einzelfalls zu würdigen.

2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass nicht ausgeschlossen ist, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, wonach gegen eine Person, die es pflichtwidrig versäumt hat, sich zum Register der Mehrwertsteuerpflichtigen anzumelden und die diese Steuer nicht schuldete, eine Geldbuße in Höhe des für den Wert der gelieferten Gegenstände geltenden normalen Mehrwertsteuersatzes verhängt werden darf, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob angesichts der Umstände des vorliegenden Falles und insbesondere angesichts des konkret verhängten Betrags und einer etwa vorliegenden Steuerhinterziehung oder Umgehung der geltenden Gesetze, die dem Steuerpflichtigen, dessen Versäumnis der Anmeldung geahndet wird, anzulasten wären, die Höhe der Sanktion über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die in der Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und in der Vermeidung von Steuerhinterziehungen bestehen.

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1

 

Beteiligte

Redlihs

Ainars Redlihs

Valsts ienemumu dienests

 

Verfahrensgang

Augstakas tiesas Senats (Lettland) (Urteil vom 13.05.2011; ABl. EU 2011, Nr. C 226/31)

 

Tatbestand

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Begriff ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ ‐ Holzlieferungen zur Abmilderung von Sturmschäden ‐ System der Selbstveranlagung ‐ Fehlende Eintragung im Register der Steuerpflichtigen ‐ Geldbuße ‐ Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C-263/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Senāts (Lettland) mit Entscheidung vom 13. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2011, in dem Verfahren

Ainārs Rēdlihs

gegen

Valsts ieņēmumu dienests

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Rosas, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ des Valsts ieņēmumu dienests, vertreten durch N. Jezdakova, generāldirektore,

‐ der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und A. Nikolajeva als Bevollmächtigte,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sauka und C. Soulay als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 (ABl. L 384, S. 92) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Rēdlihs und dem Valsts ieņēmumu dienests (Lettische Finanzverwaltung, im Folgenden: VID) wegen fehlender Eintragung des Erstgenannten in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Mehrwertsteuerrichtlinie hat gemäß ihren Art. 411 und 413 die Mehrwertsteuervorschriften der Union, insbesondere die Sechste Richtlinie, mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. Nach den Erwägungsgründen 1 und 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um die Bestimmungen zur Harmonisierung des Mehrwertsteue...

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