Entscheidungsstichwort (Thema)

Garantie effektiven Rechtsschutzes; gleichzeitige Einlegung von Nichtzulassungsbeschwerde und (hilfsweise) Revision

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 19 Abs. 4 GG garantiert auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozeßordnung zur Verfügung gestellten Instanzen.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 3; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1

 

Tatbestand

I.

1. Gegen ein Urteil des Niedersächsischen FG vom 30. Oktober 1972, das die Revision nicht zugelassen hatte, legte der Beschwerdeführer durch seinen Bevollmächtigten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ein und schrieb weiter: „Hilfsweise fechte ich hiermit … das Urteil … mit der Revision in vollem Umfang an.”

Das FG berechnete den Streitwert auf 1.426 DM und teilte dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers mit dieser Berechnung mit, seine Eingabe sei als Revision angesehen worden; die Nichtzulassungsbeschwerde sei gegenstandslos.

Der BFH behandelte die Nichtzulassungsbeschwerde und die Revision unter verschiedenen Aktenzeichen und forderte das FG auf, eine Entscheidung gemäß § 130 Abs. 1 FGO zur Nichtzulassungsbeschwerde nachzuholen; das FG half nicht ab. Das FA berechnete in seiner Stellungnahme zur Revision und Nichtzulassungsbeschwerde den Streitwert auf 1.272 DM. Von allen diesen Vorgängen erhielt der Bevollmächtigte Abschrift und hatte Gelegenheit zur Äußerung.

Durch zwei Beschlüsse vom 20. Juli 1973 verwarf der BFH sowohl die Nichtzulassungsbeschwerde als auch die Revision als unzulässig. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei mangels Beschwer unzulässig, weil der Streitwert 1.000 DM übersteige, so daß die Revision ohnehin offenstehe. Die Revision sei unzulässig, weil sie hilfsweise, d.h. unter der Bedingung, daß die gleichzeitig erhobene Nichtzulassungsbeschwerde erfolglos bleiben würde, eingelegt sei. Der Wille der Kläger zur Einlegung der Revision sei nicht eindeutig und unbedingt zum Ausdruck gekommen.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde wird ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend gemacht. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei verworfen worden, ohne daß ausreichende Gelegenheit gegeben worden sei, zu den Berechnungsgrundlagen für den Streitwert (der richtig nur mit 748 DM anzusetzen sei) Stellung zu nehmen oder die Beschwerde zurückzunehmen. Darauf beruhe auch die Entscheidung zur Revision, die insoweit nur eine Folgeentscheidung wegen der Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs zur Nichtzulassungsbeschwerde sei. Der Wille, Revision einzulegen, sei deutlich erkennbar gemacht worden.

3. Der Bundesminister der Justiz hat sich für die Bundesregierung geäußert. Er hält Art. 103 Abs. 1 GG für nicht verletzt; es sei ausreichend rechtliches Gehör gegeben worden. Zu erwägen sei jedoch, ob aus der Grundsatzentscheidung des Art. 19 Abs. 4 GG zugunsten eines lückenlosen und umfassenden Rechtsschutzes zu folgern sei, daß grundsätzlich derjenigen Auslegung eines zweifelsfrei gestellten Rechtsschutzbegehrens der Vorzug zu geben sei, die es ermögliche, dem Bürger den ihm durch die Verfahrensordnung zugestandenen Rechtsschutz durch eine zweite Instanz zu gewähren.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, und zum Teil begründet

1. Sie ist unbegründet, soweit sie sich gegen den Beschluß richtet, durch den die Nichtzulassungsbeschwerde verworfen wurde. Ausweislich der Akten hatte der Beschwerdeführer hinreichende Möglichkeiten, sich zur Streitwertberechnung, von der die Zulässigkeit der Beschwerde abhing, und zur Aufrechterhaltung der Beschwerde zu äußern.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist dagegen begründet, soweit sie sich dagegen wendet, daß die Revision als unzulässig verworfen worden ist. Der Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Der Beschwerdeführer hat sich im Ausgangsverfahren gegen die Festsetzung seiner Einkommensteuer gewandt. Er hat also gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt den Rechtsweg beschritten, der unter der besonderen Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG steht Art. 19 Abs. 4 GG überläßt zwar die nähere Ausgestaltung dieses Rechtswegs den jeweils geltenden Prozeßordnungen (BVerfGE 10, 264 [267 f.]; 27, 297 [310]) und gewährleistet nicht daß diese einen Instanzenzug zur Verfügung stellen (BVerfGE 11, 232 [233] mit Nachweisen; 28, 21 [361). Jedoch darf der Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden (BVerfGE 22, 49 [81 f.] [1] ; 27, 297 [310]) und er darf auch nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 10, 264 [268]; ständige Rechtsprechung). Das gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, es gilt auch für die Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozeßordnung jeweils vorsieht.

b) Daß die Einlegung von Rechtsmitteln nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden kann, ist ein allgemein anerkannter Grundsatz des Prozeßrechts. Unbeschadet dessen hält der BFH die gleichzeitige Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde und der Revision – wobei immer nur eines dieser Rechtsmittel zulässig sein kann – für möglich (BFH 93, 25 [2] ; 103, 42 [3] ) und ist auch im Ausgangsverfahren bei der Sachbehandlung, die er gegenüber dem FG durchgesetzt hat, von dieser Möglichkeit ausgegangen. Nichtzulassungsbeschwerde und Revision stehen bezüglich ihrer Zulässigkeit notwendig in einem gegenseitigen innerprozessualen Bedingungsverhältnis. Wenn dieses Verhältnis in der Rechtsmittelschrift eines Nicht Juristen, der auch nicht durch einen Juristen vertreten wird, in der Weise angesprochen wird, daß eines der Rechtsmittel als „hilfsweise” eingelegt bezeichnet wird, so ist die Auslegung möglich, daß hierdurch der eindeutige und unbedingte Ausdruck des Willens des Rechtsmittelführers zur Einlegung der Revision, den das Gesetz erfordert, nicht in Frage gestellt werden soll. Diese, dem Beschwerdeführer günstige Auslegung lag, wie der Gesamtvortrag im Ausgangsverfahren erkennen ließ, im vorliegenden Fall nicht nur nahe, sie war, sollte der Zugang zur Revisionsinstanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden, auch geboten, Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozeßordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. BVerfGE 35, 263 [274]).

3. Da die angegriffene Entscheidung diesem Verfassungsgebot nicht gerecht geworden ist, war sie aufzuheben und die Sache an den BFH zurückzuverweisen. Ob die Revision aus anderen Gründen als unzulässig oder unbegründet angesehen werden könnte, ist ohne Belang (vgl. BVerfGE 7, 275 [281 f.]).

4. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten, da die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis Erfolg gehabt hat (§ 34 Abs. 4 BVerfGG).

5. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

 

Fundstellen

BStBl II 1976, 271

BVerfGE 40, 272

BVerfGE, 272

BB 1975, 1561

DB 1976, 132

NJW 1976, 141

DRiZ 1976, 24

[1] BStBl III 1967, 443
[2] BStBl II 1968, 685
[3] BStBl II 1971, 739

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