Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern auch dann, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann. Dementsprechend liegt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch dann vor, wenn die vom Gericht gesetzte Frist objektiv nicht ausreicht, um die innerhalb der Frist erbetenen Auskünfte beizubringen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Wiesbaden (Urteil vom 16.05.1977; Aktenzeichen 1 S 431/76)

 

Gründe

A.

1. Nach einem im Jahre 1950 geschlossenen Vergleich erhielt die 1913 geborene Beschwerdeführerin nach Scheidung ihrer Ehe von ihrem früheren Ehemann, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, eine monatliche Unterhaltsleistung von 80 DM. Durch Urteil des Amtsgerichts vom 30. Juni 1976 wurde der Beschwerdeführerin auf ihre Unterhaltserhöhungsklage hin ein rückständiger Unterhaltsbeitrag von 5.658,18 DM und ab 1. Juni 1976 eine monatliche Unterhaltsrente von 420 DM über die im Vergleich vereinbarte monatliche Summe von 80 DM hinaus zugesprochen. In dem vom Beklagten angestrengten Berufungsverfahren trug dieser vor, wenn die Beschwerdeführerin, wie sie behaupte, aus Altersgründen und Krankheitsgründen ihren bisherigen Beruf nicht ausüben könne, stehe ihr Angestelltenversicherungsrente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit zu. Auch könne sie ab 15. Dezember 1976 das vorgezogene Altersruhegeld beantragen.

Durch Auflagenbeschluß vom 7. März 1977 gab das Landgericht der Beschwerdeführerin unter anderem auf, „binnen vier Wochen mitzuteilen, wann sie eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt habe und welche Ansprüche auf Rentenzahlung ihr zustehen”. Die Beschwerdeführerin ließ am 22. April 1977 nach Einholung einer Auskunft bei dem Bürgermeisteramt mitteilen, sie habe ihre Lehre im Jahre 1929 begonnen und 1959 die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt. Dazwischen lägen Zeiten der Beitragsleistung an die Genossenschaft der Deutschen Bühnenarbeiter sowie Zeiten ohne Beschäftigung. Nach Auskunft des Versicherungsamtes bestehe derzeit kein Rentenanspruch, weil sie das allgemeine Rentenalter noch nicht erreicht habe. Auch sei die Mindestarbeitsdauer nicht erreicht. Eine spätere Rentenzahlung hänge noch von weiterer Aufklärung ab, unter anderem davon, ob es sich bei den Beitragsleistungen an die Genossenschaft der Deutschen Bühnenarbeiter um rentenfähige Beiträge gehandelt habe.

Das Landgericht gab durch das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil vom 16. Mai 1977 der Berufung statt und wies die Klage der Beschwerdeführerin mit folgender Begründung ab: Die Beschwerdeführerin habe nicht substantiiert dargetan, daß sie eine ihren Lebensbedarf deckende Rente nicht erlangen könne und sie habe „für gegebene Anhaltspunkte keine zulässigen Beweise angetreten”. Sie habe nur eine mündliche, unverbindliche Auskunft eingeholt. Das genüge nicht. Eine verbindliche Behördenauskunft sei nur aufgrund einer schriftlichen Anfrage möglich. Nach ihren eigenen Angaben bestehe die Möglichkeit, daß die Beschwerdeführerin das vorgezogene Altersruhegeld beanspruchen könne. Sollte sie in der Zeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres aus Gesundheitsgründen ihren Beruf nicht ausgeübt haben, hätte sie Antrag auf Rente wegen fehlender oder herabgesetzter Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit stellen können. Daß sie keine Rentenanträge gestellt habe, lasse nur den Schluß zu, sie habe sich nicht genügend um die ihr aufgrund eigener Beitragszahlungen zustehenden gesetzlichen Rentenansprüche gekümmert. Die Klägerin habe die Erwägungen nicht ausgeräumt, „daß bei der von ihr selbst angegebenen Zeit von Beitragszahlungen an Rentenversicherungsträger üblicherweise aufgrund der anderen hier vorgetragenen und bereits erörterten Umstände während der im vorliegenden Rechtsstreit streitigen Zeit mit Rentenzahlungen möglicherweise ausreichenden Umfanges gerechnet werden konnte”.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Diese sieht sie unter anderem darin, daß sie in der kurzen vom Gericht anberaumten Frist nicht imstande gewesen sei, weitere als die erteilten Auskünfte zu beschaffen.

3. Der Hessische Ministerpräsident hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen und sich nur zu der Frage geäußert, mit welchen Bearbeitungszeiten normalerweise bei Rentenanträgen der vorliegenden Art zu rechnen sei: Die Bewilligung des flexiblen Altersruhegeldes, wie es hier in Rede stehe, erfordere zur Zeit laut Auskunft des Parlamentarischen Staatssekretärs Buschfort im Deutschen Bundestag am 24. Juni 1977 (8. WP, 37. Sitzung, StenBer S. 2937) eine Bearbeitungsdauer von knapp drei Monaten. Bei der Landesversicherungsanstalt Hessen habe die durchschnittliche Laufzeit für alle Rentenanträge, also wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit und wegen Erreichens der Altersgrenze sowie bei abgeleiteten Renten (Witwenrenten, Witwerrenten und Waisenrenten) im August 1976 116 Tage, im November 1976 113 Tage und im Durchschnitt aller Landesversicherungsanstalten 106 bis 107 Tage in Anspruch genommen. Wenn allerdings Versicherungsunterlagen fehlten oder das Fremdrentenrecht anzuwenden sei, müsse mit längeren Bearbeitungszeiten, erfahrungsgemäß von mehreren Monaten, gerechnet werden, ohne daß es möglich sei, konkrete Durchschnittswerte anzugeben. Bei der Landesversicherungsanstalt Hessen hätten in diesen Fällen Bearbeitungszeiten von bis zu acht Monaten als normal zu gelten. Ob bei der hier zuständigen Landesversicherungsanstalt Westfalen von wesentlich anderen Zeiten ausgegangen werden könne, sei zweifelhaft.

B.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, da das Landgericht den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Die Gewährung rechtlichen Gehörs setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, daß das Gericht die Ausführungen der Prozeßparteien zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht (BVerfGE 47, 182 [187 f.] m.w.N.). Maßgebend ist dabei der Gedanke, daß der Verfahrensbeteiligte Gelegenheit haben muß, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (BVerfGE 22, 114 [119]). Aus diesem Grunde ist der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet (BVerfGE 12, 110 [113]), sondern auch dann, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann (vgl BVerfGE 4, 190 [192]; 6, 12 [15]; 8, 89 [91]; 12, 6 [9]; 17, 191 [193]). Dementsprechend liegt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch dann vor, wenn die vom Gericht gesetzte Frist objektiv nicht ausreicht, um die innerhalb der Frist erbetenen Auskünfte beizubringen. So aber liegen die Verhältnisse hier.

2. Auszugehen ist von der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des einfachen Rechts durch das Landgericht, wonach es Sache der Beschwerdeführerin ist, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß sie derzeit keine Rente bekommt und daß die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug einer Rente nicht gegeben sind. Dementsprechend hat das Landgericht in seinem Auflagenbeschluß vom 7. März 1977 der Beschwerdeführerin unter anderem aufgegeben, binnen vier Wochen mitzuteilen, wann sie eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat und welche Ansprüche auf Rentenzahlung ihr zustehen. Die Beschwerdeführerin ist dieser Auflage nachgekommen. Sie hat sich durch ihren Bevollmächtigten an die für Auskünfte dieser Art zuständige untere Verwaltungsbehörde (vgl. §§ 36, 37 Abs 1 RVO; jetzt §§ 92, 93 des Sozialgesetzbuchs [SGB] – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – vom 23. Dezember 1976 [BGBl. I S. 3845]) gewandt und die dort erteilten Auskünfte dem Gericht weitergegeben. Wie der Hessische Ministerpräsident in seiner Stellungnahme mitgeteilt hat, war eine dahingehende verbindliche Auskunft, wie sie das Gericht in seinem Auflagenbeschluß zwar nicht verlangt, in dem Urteil aber offensichtlich als entscheidungserheblich gefordert hat, in der vom Gericht gesetzten Frist nicht zu erhalten. Die Beschwerdeführerin bedurfte der Hilfe der Sozialversicherungsträger, die einen längeren Zeitraum benötigt hätten, zumal wegen der, wie die Beschwerdeführerin vorgetragen hat, mehrjährigen Beschäftigung in K. gegenüber den üblichen Bearbeitungszeiten noch Verzögerungen eintreten mußten. So ist auch über den inzwischen gestellten Antrag auf Wiederherstellung der Rentenversicherungsunterlagen und auf Rentenauskunft bis heute keine abschließende Entscheidung ergangen.

Wenn das Gericht gleichwohl die Klage der Beschwerdeführerin im Ergebnis deshalb abgewiesen hat, weil sie das Nichtbestehen von Rentenansprüchen nicht genügend dargetan habe, so hat es bei dieser Sachlage den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

 

Fundstellen

BVerfGE, 212

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