Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungsrechtlich hinnehmbare Dauer eines Gerichtsverfahrens

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Verfassung lassen sich keine festen Grundsätze dafür entnehmen, ab wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und deshalb nicht mehr hinnehmbaren Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall. Dabei ist bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer des gerichtlichen Verfahrens insbesondere der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen Rechnung zu tragen, aber auch, ob Ursachen für etwaige Verzögerungen in sachlichen Erfordernissen des konkreten Verfahrens oder in anderen - außerhalb dieses Verfahrens liegenden - Umständen begründet sind.

2. Grundrechte können auch durch Unterlassen gerichtlicher Tätigkeit verletzt werden. Eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig, solange das Unterlassen andauert.

3. Die siebenjährige Verfahrensdauer eines beim LG anhängigen aktienrechtlichen Spruchstellenverfahrens über die angemessene Abfindung von Aktionären, die infolge Eingliederung ihrer Aktiengesellschaft in eine andere Aktiengesellschaft aus jener ausgeschieden sind, ist verfassungsrechtlich noch hinnehmbar.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 411

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Länge eines beim Landgericht anhängigen aktienrechtlichen Spruchstellenverfahrens über die angemessene Abfindung von Aktionären, die infolge Eingliederung ihrer Aktiengesellschaft in eine andere Aktiengesellschaft aus jener ausgeschieden sind. Die Beschwerdeführer, neben anderen Beteiligten Antragsteller des Ausgangsverfahrens, sehen in der inzwischen siebenjährigen Verfahrensdauer eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung und auch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

  • Sie ist allerdings zulässig. Grundrechte können auch durch Unterlassen gerichtlicher Tätigkeit verletzt werden. Eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig, solange das Unterlassen andauert (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪306≫; 16, 119 ≪121≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1997, S. 2811 ≪2812≫). Das ist hier der Fall. In dem von den Beschwerdeführern angegriffenen Verfahren des Landgerichts liegt nach dem derzeitigen Stand der Akten weder das in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten vor noch ist konkret absehbar, wann das Gericht zu einer verfahrensbeendenden Entscheidung kommen wird. Die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde steht der Zulässigkeit nicht entgegen, weil § 93 BVerfGG Fristen für ein Vorgehen gegen eine Unterlassung nicht vorsieht (vgl. BVerfGE 16, 119 ≪121≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, a.a.O.).
  • Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Das Landgericht hat durch die Gestaltung des Ausgangsverfahrens Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht verletzt.

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet das Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinne, zu denen auch das vorliegende aktienrechtliche Spruchstellenverfahren gehört, einen wirkungsvollen Rechtsschutz. Dieser verlangt die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter. Darüber hinaus fordert das Rechtsstaatsprinzip auch im Interesse der Rechtssicherheit, daß strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫; 88, 118 ≪124≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, a.a.O.).

    Der Verfassung lassen sich allerdings keine festen Grundsätze dafür entnehmen, ab wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und deshalb nicht mehr hinnehmbaren Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, a.a.O.). Dabei ist insbesondere der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen Rechnung zu tragen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer des gerichtlichen Verfahrens ist aber auch von Belang, ob Ursachen für etwaige Verzögerungen in sachlichen Erfordernissen des konkreten Verfahrens oder in anderen – außerhalb dieses Verfahrens liegenden – Umständen begründet sind (vgl. BVerfG, Vorprüfungsausschuß, EuGRZ 1982, S. 75).

    b) Ausgehend hiervon erscheint die Dauer des landgerichtlichen Verfahrens von nunmehr sieben Jahren – auch unter Berücksichtigung seiner insbesondere wirtschaftlichen Bedeutung für die Beschwerdeführer und die anderen Antragsteller – derzeit verfassungsrechtlich noch hinnehmbar.

    Die zeitliche Gestaltung eines Verfahrens obliegt im Rahmen der in den einschlägigen Prozeßordnungen für die Verfahrensführung getroffenen Bestimmungen in erster Linie dem mit der Sache befaßten Gericht. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, hinsichtlich jeder einzelnen Maßnahme zur Durchführung des Verfahrens nachzuprüfen, ob und inwieweit sie möglicherweise früher hätte ergehen können. Dies verbietet sich schon im Hinblick darauf, daß ein Gericht jeweils mit einer Vielzahl von Verfahren gleichzeitig befaßt ist und sich hieraus zwangsläufig für das einzelne Verfahren Verzögerungen ergeben, deren Ursachen nicht in diesem Verfahren selbst liegen (vgl. BVerfG, Vorprüfungsausschuß, a.a.O., S. 75 f.).

    Für das hier zu beurteilende Spruchstellenverfahren lassen sich keine von Verfassungs wegen zu beanstandenden Verzögerungen durch ein Verhalten, insbesondere eine Untätigkeit, des Landgerichts feststellen. Die Hauptursache für die in der Tat lange Verfahrensdauer ist ausweislich der Verfahrensakten, die die Kammer beigezogen hat, nicht in einer verzögerlichen Verfahrensbehandlung durch das Gericht zu sehen, sondern in anderen – innerhalb und außerhalb des Verfahrens liegenden – Umständen. Dies gilt für die Zeit bis zur Beauftragung des Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens im September/November 1996, aber auch für den Zeitraum danach.

    Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß das Landgericht durch die Art, wie es das bei ihm anhängige Verfahren betrieben hat, die Fertigung des genannten Gutachtens wesentlich verzögert haben könnte. Das Gericht ging bereits zu Beginn der Beweiserhebung davon aus, daß die Gutachtenerstellung zwei Jahre oder länger dauern könnte. Es hat insoweit gegenüber dem Beschwerdeführer zu 1 auf seine einschlägigen Erfahrungen verwiesen. Daß es in der Folge darauf verzichtet hat, dem Sachverständigen für die Fertigstellung des Gutachtens Fristen zu setzen und erforderlichenfalls Zwangsmittel anzudrohen, ist vor diesem Hintergrund noch nicht als ermessensfehlerhaft und verfassungsrechtlich bedenklich anzusehen.

    Bei der Gutachterbestellung war es für das Landgericht im Hinblick auf die Schwierigkeit der Materie und den Umfang des zu erwartenden Gutachtens ersichtlich nicht möglich, einen realistischen Erstellungszeitpunkt zu prognostizieren und dem Sachverständigen eine exakte Frist zu setzen. Das Gericht hat den Gutachter dementsprechend bei der Aktenübersendung zur Gutachtenerstellung im November 1996 auch nur gebeten mitzuteilen, wann voraussichtlich mit dem Eingang des Gutachtens gerechnet werden könne. Der Sachverständige hat daraufhin Anfang Dezember 1996 geantwortet, daß er sich kurzfristig einarbeiten werde und mit den Beteiligten einen möglichst arbeitsökonomischen Weg absprechen wolle. Erst danach könnten Aussagen über den Fertigstellungszeitpunkt gemacht werden. Das Landgericht hat dem Gutachter ferner bereits im Beweisbeschluß umfangreiche Vorgaben zur Gutachtenerstellung gemacht und diese im Januar 1997 hinsichtlich eines einzelnen Punktes besonders erläutert. Mitte Januar 1997 hat ein Gespräch des Vorsitzenden Richters mit dem Sachverständigen stattgefunden, in dem offensichtlich die weitere Vorgehensweise des Gutachters vereinbart worden ist. Das Gericht hat auch im weiteren Verlauf des Jahres 1997 Kontakt zum Gutachter gehalten. Aus einem Schreiben des Sachverständigen vom September 1997 konnte es entnehmen, daß noch weitere Unterlagen von den Antragsgegnerinnen zur Gutachtenerstellung angefordert worden sind.

    Auf eine Anfrage des Landgerichts vom Juli 1998 hat der Sachverständige dann Anfang August 1998 mitgeteilt, daß das Gutachten voraussichtlich Ende Oktober/Anfang November 1998 vorliegen werde. Dieser Termin konnte nach einem Schreiben des Sachverständigen von Mitte November 1998 deshalb nicht eingehalten werden, weil dieser noch weitere Informationen von den Antragsgegnerinnen benötigte. Diese Informationen lagen dem Gutachter ausweislich seiner auf eine Sachstandsanfrage des Landgerichts von Ende Februar 1999 erfolgten Antwort Anfang März 1999 wegen interner Schwierigkeiten bei der Antragsgegnerin zu 2 noch nicht vor; sie waren danach aber für die zweite Märzwoche 1999 in Aussicht gestellt worden. Der Sachverständige hat dabei ferner angekündigt, sich nach dem Erhalt der Unterlagen umgehend zu melden, um einen Abgabetermin zu vereinbaren.

    Dieser Verfahrensablauf zeigt nicht nur die großen Schwierigkeiten, mit denen Sachverständiger und Landgericht im Zusammenhang mit der Erstellung des in Aussicht genommenen Gutachtens konfrontiert waren. Er macht auch deutlich, daß das Gericht den Gang des Verfahrens und dessen Förderung nicht aus den Augen verloren, sondern im regelmäßigen Kontakt mit dem Sachverständigen versucht hat, auf den möglichst baldigen Abschluß des Gutachtens hinzuwirken. Daß dabei Zwangsmittel wie Fristsetzung und Androhung von Zwangsgeldern bisher nicht zur Anwendung gekommen sind, ist schon deshalb nicht zu beanstanden, weil Anhaltspunkte dafür, daß der Sachverständige aus von ihm zu vertretenden Gründen die Fertigstellung des Gutachtens verzögert haben könnte, nicht hervorgetreten sind. Das Landgericht ist im November 1998 und Anfang März 1999 vom Sachverständigen über die Hinderungsgründe für die Abgabe des Gutachtens unterrichtet worden. Danach liegen diese Gründe offensichtlich in der Sphäre der Antragsgegnerin zu 2. Daß der Sachverständige sie von sich aus hätte aus dem Wege räumen können, ist nicht erkennbar.

    Daß sich derzeit Anhaltspunkte für eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verfahrensgestaltung nicht ergeben, ändert nichts daran, daß das Landgericht auch von Verfassungs wegen gehalten ist, dem Verfahren beschleunigten Fortgang zu geben. Inzwischen ist die von ihm als Regelerfahrungswert angenommene zweijährige Dauer der Gutachtenerstellung verstrichen. Das Gericht wird deshalb nunmehr nach Eingang der vom Sachverständigen noch benötigten Informationen bei diesem auf eine zügige Fertigstellung und Abgabe des Gutachtens hinzuwirken und erforderlichenfalls auch Maßnahmen entsprechend § 411 ZPO zu ergreifen haben. Auch nach Vorlage des Gutachtens obliegt es dem Landgericht angesichts der bisherigen Verfahrensdauer, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit durch eine zeitlich straffe Verfahrensgestaltung, etwa durch die möglichst umgehende Anberaumung eines Verhandlungstermins, zügig zu fördern und möglichst schnell zu einem Abschluß zu bringen.

    Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Grimm, Hömig

 

Fundstellen

NJW 1999, 2582

NZG 1999, 711

WM 1999, 1012

WuB 1999, 829

ZIP 1999, 999

AG 1999, 370

MittRKKöln 1999, 338

BRAK-Mitt. 1999, 240

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