Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei fraglicher Rechtsschutzzusage der Gewerkschaft. Zumutbarkeit einer unbedingten arbeitsgerichtlichen Berufung

 

Leitsatz (redaktionell)

Es ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn vor Zusage der Gewerkschaft, Rechtsschutz zu gewähren, fristgerecht eine „bedingte Berufung” eingelegt und Prozesskostenhilfe beantragt wird und nach der Deckungszusage der Gewerkschaft nach Ablauf der Berufungsfrist die Wandlung in eine unbedingte Berufung beantragt wird.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; ZPO § 233; ArbGG § 72a Abs. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 2; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LAG Brandenburg (Urteil vom 05.11.1993; Aktenzeichen 2 Sa 704/92)

 

Tenor

Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 5. November 1993 – 2 Sa 704/92 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung eines Wiedereinsetzungsgesuchs.

I.

  • Im Ausgangsverfahren stritten die Parteien darum, ob ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und der Beklagten zu 1) bestand. Der Beschwerdeführer war anwaltlich vertreten. Während des erstinstanzlichen Verfahrens wurde er Mitglied der Gewerkschaft I.… und erhielt (nachträglich) Rechtsschutz. Das Verfahren wurde weiterhin durch seinen Rechtsanwalt geführt. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Innerhalb der Berufungsfrist beantragte der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen bisherigen Prozeßbevollmächtigten, Prozeßkostenhilfe zur Durchführung der Berufung und legte “bedingte Berufung” ein, die er begründete. Auf seine Gewerkschaftsmitgliedschaft wies er nicht hin. Das Landesarbeitsgericht bewilligte ihm nach Ablauf der Berufungsfrist Prozeßkostenhilfe. In Unkenntnis dieses Beschlusses beantragte der Beschwerdeführer am 24. August 1992 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil seine Bedürftigkeit nunmehr entfallen sei. Die Gewerkschaft I.… habe ihm Mitte August 1992 Rechtsschutz bewilligt. Die Berufung sei daher als unbedingte zu behandeln. Dies gelte auch für die Berufungsbegründung. Das Landesarbeitsgericht hob die Prozeßkostenhilfebewilligung rückwirkend auf.

    Im weiteren Verlauf des Verfahrens stellte sich heraus, daß am 29. Juni 1992 das Kündigungsschutzverfahren 25 weiterer Arbeitnehmer, in dem die Beklagte zu 1) Gegner war, wegen Vorgreiflichkeit des Ausgangsverfahrens zum Ruhen gebracht worden war. Mit Schriftsatz vom 25. August 1992 legitimierte sich der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers auch in diesem Folgeverfahren und beantragte wegen Vorgreiflichkeit des Ausgangsverfahrens die Aussetzung des Folgeverfahrens.

  • Das Landesarbeitsgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers. Innerhalb der Berufungsfrist sei keine unbedingte Berufung eingelegt worden. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unbegründet. Der Beschwerdeführer habe die Berufungsfrist nicht unverschuldet versäumt, weil er nicht alles ihm Zumutbare zur Fristwahrung getan habe. Er sei von vornherein nicht bedürftig gewesen, da er gewerkschaftlich organisiert sei. Er habe wissen müssen, daß die Angabe seiner Gewerkschaftszugehörigkeit zu den für eine Prozeßkostenhilfebewilligung erforderlichen Erklärungen gehöre. Auch wenn unterstellt werde, daß die Deckungszusage der Gewerkschaft I.… am 14. August 1992 erteilt worden sei und daß die Bedürftigkeit bei Anspruch auf gewerkschaftlichen Rechtsschutz wie bei einer Rechtsschutzversicherung erst entfalle, wenn eine Deckungszusage erteilt worden sei, führe dies im vorliegenden Einzelfall nicht zur Wiedereinsetzung. Nach den Rechtsschutzrichtlinien der Gewerkschaft I.… rechtfertigten nur sachliche Gründe die Ablehnung des Rechtsschutzes. Hier sei zu berücksichtigen, daß das vorliegende Verfahren ein Pilotverfahren sei. Da mit Deckung der Gewerkschaft das Folgeverfahren im Hinblick auf vorliegenden Rechtsstreit zum Ruhen gebracht worden sei, habe spätestens seit diesem Zeitpunkt (29. Juni 1992) festgestanden, daß die Gewerkschaft dem Beschwerdeführer Rechtsschutz erteilen werde. Es sei ihm daher zuzumuten gewesen, die Berufung fristgerecht einzulegen, da er davon ausgehen habe müssen, für das Pilotverfahren Rechtsschutz zu erhalten.

II.

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde, die Gerichte dürften dem Bürger den Zugang zu Gericht nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Das Landesarbeitsgericht leite aus der bloßen Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft die gleichsam automatische Pflicht der Gewerkschaft, jeden Prozeß ihres Mitgliedes zu finanzieren, her. Es verlange von ihm, die Berufung ohne Rechtsschutzzusage der Gewerkschaft einzulegen, setze ihn einem ungerechtfertigten Kostenrisiko aus und überspanne die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfaltspflicht.

Auch Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts führe zu einer nicht gerechtfertigten Schlechterstellung der Gewerkschaftsmitglieder im Vergleich zu Rechtsschutzversicherten. Außerdem sei das Koalitionsrecht der Gewerkschaften und das ihrer Mitglieder tangiert (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG).

III.

Zur Verfassungsbeschwerde haben die Beklagten zu 1) und deren Geschäftsführer (Beklagter zu 3) Stellung genommen. Die Verfassungsbeschwerde sei mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig. Der Beschwerdeführer habe durch Erhebung einer Nichtzulassungsbeschwerde eine Auseinandersetzung des Bundesarbeitsgerichts mit dem behaupteten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG erreichen können.

Die Verfassungsbeschwerde sei auch unbegründet. Der Zugang zur Berufungsinstanz sei nicht in unvorhersehbarer und damit unzumutbarer Weise erschwert worden. Der Beschwerdeführer sei nicht gehindert gewesen, die Berufungsfrist einzuhalten. Er und sein Rechtsanwalt hätten wissen müssen, daß die für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe erforderliche Bedürftigkeit nicht vorgelegen habe, weil es triftige Anhaltspunkte dafür gegeben habe, daß die Gewerkschaft Rechtsschutz gewähren werde. Auch eine vorsorglich eingelegte Berufung sei von den Rechtsschutzrichtlinien der Gewerkschaft gedeckt gewesen.

Das Land Brandenburg, dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, hat hiervon keinen Gebrauch gemacht.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Eine auf Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch die Gerichte bei der Auslegung von Verfahrensvorschriften gestützte Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72a Abs. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG) wäre ohne jede Erfolgsaussicht gewesen. Weder hat das Landesarbeitsgericht einen im Sinne von § 72 Abs. 2 Satz 2 ArbGG divergierenden Rechtssatz aufgestellt, noch ist erkennbar, daß es seine Entscheidung der Sache nach auf einen solchen Rechtssatz gestützt hat (vgl. BAG, AP Nr. 15 zu § 72a ArbGG 1979 – Divergenz). Deshalb war der Rechtsweg mit der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts erschöpft (vgl. BVerfGE 28, 314 ≪319≫).

C.

I.

Die Beschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Der Zugang des Beschwerdeführers zur Berufungsinstanz ist in unzumutbarer Weise erschwert worden. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden (§ 93c Satz 1 BVerfGG).

  • Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich ein Anspruch des Bürgers auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Gesetzgeber darf Schranken für den Zugang zu Gericht errichten, sofern diese im Hinblick auf das Ziel eines wirkungsvollen Rechtsschutzes geeignet, angemessen und zumutbar sind. Die Gerichte müssen bei der Auslegung solcher Normen ebenfalls das Ziel der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes beachten. Sie dürfen den Berechtigten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (BVerfGE 77, 275 ≪284≫m.w.N.; st. Rspr.).
  • Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann die angegriffene Entscheidung keinen Bestand haben. Die Auslegung des § 233 ZPO durch das Landesarbeitsgericht verstößt gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.

    a) Im Gegensatz zur Auffassung des Beschwerdeführers hat das Landesarbeitsgericht allerdings nicht wegen der bloßen Mitgliedschaft des Beschwerdeführers in einer Gewerkschaft seine Bedürftigkeit verneint und deshalb den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Es hat nämlich im Ergebnis wie bei rechtsschutzversicherten Parteien (BGH, NJW 1991, S. 109 ≪110≫) zugunsten des Beschwerdeführers eine Bedürftigkeit bis zur Erteilung der Deckungszusage unterstellt und es ihm lediglich im Einzelfall zugemutet, fristgerecht (unbedingt) Berufung einzulegen, weil festgestanden habe, daß die Gewerkschaft Rechtsschutz erteilen werde.

    b) Das Landesarbeitsgericht hat jedoch das Verschulden des Beschwerdeführers auf unzureichender Tatsachengrundlage bejaht und ihm dadurch den Zugang zur Berufungsinstanz in unzumutbarer Weise erschwert.

    Da im vorliegenden Fall Rechtsschutz durch die Gewerkschaft nicht innerhalb der Berufungsfrist bewilligt worden ist und der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers vor Einlegung des Rechtsmittels keine Rücksprache mit der Gewerkschaft durchgeführt hat (eidesstattliche Versicherung des örtlichen Bevollmächtigten der Gewerkschaft I.…), hätte der Beschwerdeführer die entstandene Prozeßgebühr (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO) in Höhe von 13/10 einer Gebühr aller Wahrscheinlichkeit nach selbst tragen müssen, wenn sein Prozeßbevollmächtigter unbedingt Berufung eingelegt hätte. Ein Kostenerstattungsanspruch des Beschwerdeführers gegenüber der Gewerkschaft hätte jedenfalls laut Satzung nicht bestanden. Diese sieht nämlich eine Kostentragungspflicht des Mitglieds für Verfahren vor, die ohne Zustimmung der Gewerkschaft fortgeführt werden. Die Vorgehensweise des Prozeßbevollmächtigten reduzierte also das Kostenrisiko des Beschwerdeführers.

    Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann auch nicht allein aus dem objektiv feststehenden Musterprozeßcharakter des Ausgangsverfahrens darauf geschlossen werden, daß der Beschwerdeführer davon ausgehen mußte, Rechtsschutz auch für die zweite Instanz zu erhalten. Maßgeblich ist allein, ob unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Falles eine ordentliche Prozeßpartei im Vertrauen auf eine Rechtsschutzzusage unbedingt Berufung eingelegt hätte (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 19. Aufl., § 233, Rn. 12, 14). Dazu enthält das angegriffene Urteil aber keine Feststellungen.

    Im Gegenteil spricht viel dafür, daß der Beschwerdeführer die Tragweite des Umstandes, daß er einen Musterprozeß führte, nicht erkannt und deshalb seinen Prozeßbevollmächtigten darüber nicht informiert hatte. Dem Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten vom 25. August 1992 im Folgeverfahren läßt sich entnehmen, daß der Bevollmächtigte bei Stellung des Prozeßkostenhilfeantrags im Ausgangsverfahren am 21. Juli 1992 nicht wußte, daß ein Folgeverfahren existierte und Ende Juni 1992 zum Ruhen gebracht worden war, denn sonst hätte er nicht noch im August 1992 um Aussetzung des Verfahrens ersucht. Auch spricht der Umstand, daß der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers ohne Rücksprache mit der Gewerkschaft seinen Prozeßkostenhilfeantrag eingereicht hat, dafür, daß er nicht mit einer Rechtsschutzzusage rechnete. Es ist aus den Akten des Ausgangsverfahrens auch nicht ersichtlich, aufgrund welcher Umstände das Folgeverfahren zum Ruhen gebracht worden ist und warum zum anberaumten Termin vor dem Arbeitsgericht für die Kläger niemand erschienen ist. Für einen juristischen Laien – zumal für einen Bürger des Beitrittsgebietes – ist nicht ohne weiteres erkennbar, welche rechtlichen Folgerungen aus dem Charakter des Ausgangsverfahrens als Musterprozeß gezogen werden konnten. All diese Umstände hätte das Landesarbeitsgericht aufklären und in seine Wertung einstellen müssen, statt das Wissen des Beschwerdeführers um die Bedeutung des Musterprozeßcharakters des Ausgangsverfahrens zu unterstellen und daraus die Zumutbarkeit einer unbedingten Berufung abzuleiten. Der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers hat – soweit sich dies anhand der vom Landesarbeitsgericht ermittelten Tatsachen feststellen läßt – durch die gewählte Verfahrensweise ein unzumutbares Kostenrisiko von seinem Mandanten ferngehalten.

    Mit der vorliegenden Begründung durfte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand demnach nicht verweigert werden. Ob ein dem Beschwerdeführer zurechenbares Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten darin zu sehen ist, daß dieser vor Einlegung der Berufung keine Rücksprache mit der Gewerkschaft über die Erteilung der Rechtsschutzzusage genommen hat, obwohl schon in erster Instanz die Kosten übernommen worden waren, ist vom Landesarbeitsgericht nicht geprüft worden und daher im vorliegenden Verfahren unbeachtlich.

  • Ob noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt sind, kann dahinstehen.

II.

Das angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Söllner, Kühling, Jaeger

 

Fundstellen

NJW 1995, 1416

NZA 1995, 653

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