Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung von EWGRL 335/69 Art. 4. Vorlagepflicht an den EuGH

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der EuGH ist gesetzlicher Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das BVerfG kontrolliert die Einhaltung der Kompetenznorm des Art. 177 EWG-Vertrag in ähnlicher Weise wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht (Ausführungen zur verfassungswidrigen Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 177 EWGV durch ein letztinstanzliches Hauptsachegericht).

2. In der Nichtzulassungsbeschwerde dargelegte Rechtsfragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts betreffen revisibles Bundesrecht i.S. des § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO. Sie sind bereits dann grundsätzlich i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO und eröffnen damit den Revisionsrechtsweg, wenn sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen.

3. Die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EWGRL 335/69 dahin, daß sie nur Ausnahmen von dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 Buchst. a dieser RL regelt, wonach die Gründung einer Kapitalgesellschaft der Gesellschaftsteuer unterliegt und eine Umwandlung daher nur dann vorliegen kann, wenn eine Gesellschaft gegründet wird, nicht dagegen, wenn einer bereits bestehenden Kapitalgesellschaft Vermögen anwächst, ist kein offensichtlich unhaltbares Absehen von der Vorlagepflicht durch den BFH.

 

Normenkette

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGRL 335/69 Art. 4 Abs. 3 Buchst. a, Abs. 1 Buchst. a; EWGV Art. 177 Abs. 2; EWGV Art. 177 Abs. 3; KVStG § 7 Abs. 3 Nr. 1; FGO § 115 Abs. 1, 3, § 118 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 27.01.1988; Aktenzeichen I B 93/87)

 

Tatbestand

I. Die Beschwerdeführerin erstrebte auf dem Klagewege vergeblich die Befreiung einer Kapitalerhöhung von der Gesellschaftsteuer gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 1 Kapitalverkehrsteuergesetz 1972 in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Steuerbereinigungsgesetzes 1986. Sie machte geltend, diese Vorschrift müsse konform zu Art. 4 der Richtlinie des Rates Nr. 69/335/EWG vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 249/25) ausgelegt werden. Das Finanzgericht lehnte es ab, eine Vorabentscheidung gemäß Art. 177 Abs. 2 EWG-Vertrag zwecks Auslegung von Art. 4 Abs. 3 Buchstabe a der genannten Richtlinie einzuholen, der durch § 7 KVStG in deutsches Recht umgesetzt werden sollte. Mit dem angegriffenen Beschluß wies der Bundesfinanzhof die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Finanzgericht als unbegründet zurück; der Beschluß erging gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 ohne Begründung.

 

Entscheidungsgründe

II. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend. Eine solche Verletzung liegt jedoch nicht vor.

1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366≫). Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die Einhaltung der Kompetenznorm des Art. 177 EWG-Vertrag in ähnlicher Weise wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht und beurteilt die Zuständigkeitsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Teil des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots, das auch die Beachtung der Kompetenzregeln erfordert, die den oberen Fachgerichten die Kontrolle über die Befolgung der Zuständigkeitsordnung überträgt und auf den Instanzenzug begrenzt. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet deshalb die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (BVerfGE 82, 159 ≪194≫; vgl. auch BVerfGE 29, 198 ≪207≫).

2. In Fällen der zulassungsgebundenen Revision, in denen die Nichtzulassung der Revision durch das Instanzgericht mit dem Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar ist, kann die Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag nur bei dem Gericht eintreten, das über die Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet. Die Möglichkeit, daß eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auf die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde aus: In der Nichtzulassungsbeschwerde dargelegte Rechtsfragen aus dem Bereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts betreffen revisibles Bundesrecht i.S. des § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO (vgl. BFHE 119, 439 ≪440≫). Sie sind bereits dann grundsätzlich i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO und eröffnen damit den Revisionsrechtsweg, wenn sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen (vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren BVerfGE 82, 159 ≪196≫). Ein Beschluß des Bundesfinanzhofs, die Revision nicht zuzulassen, und damit die Entscheidung dieses Gerichts, die an es herangetragene gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, ist folglich an den zuletzt im Senatsbeschluß vom 31. Mai 1990 (BVerfGE 82, 159 ≪192 ff.≫) herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag zu messen.

3. Offensichtlich unhaltbar und daher verfassungswidrig gehandhabt wird die Vorlagepflicht insbesondere in den Fällen, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt. Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159 ≪195 f.≫).

4. Eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur möglich, wenn ihm die Gründe hinreichend sicher bekannt sind, aus denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht von einer Zulassung der Revision und anschließenden Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag abgesehen hat.

Im vorliegenden Fall sind die Gründe, die den Bundesfinanzhof veranlaßt haben, die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unbegründet zurückzuweisen, hinreichend klar, um dem Bundesverfassungsgericht eine Prüfung anhand des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 71, 122 ≪135 f.≫; BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschluß vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, NJW 1988, 1456 ≪1458≫).

a) Die Beschwerdeführerin hatte bereits das Finanzgericht zu einer Vorlage der gemeinschaftsrechtlichen Frage an den Europäischen Gerichtshof bewegen wollen. Das Finanzgericht lehnte dies im Urteil vom 24. Februar 1987 mit ausführlicher Begründung ab: Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 der EWG- Richtlinie Nr. 69/335 sei eindeutig, und es bestünden keine Auslegungszweifel. In dieser Hinsicht schloß sich das Finanzgericht mehreren zu dieser Frage wortgleichen Urteilen des Bundesfinanzhofs an (vgl. etwa BFH, Urteil vom 15. Februar 1984, BStBl. II, 326). Wenn der Bundesfinanzhof vor diesem Hintergrund die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, die erneut auf die EWG-Richtlinie gestützt war, ohne Begründung zurückwies, kann dies nur so verstanden werden, daß er an seine im finanzgerichtlichen Urteil in Bezug genommenen früheren Entscheidungen anknüpfen und an der dort gegebenen Begründung für die Nichtvorlage festhalten wollte. Demnach ist hier hinreichend klar, warum der Bundesfinanzhof eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht für erforderlich hielt.

b) Die maßgeblichen Gründe für die Entscheidung des Bundesfinanzhofs können dem genannten Urteil vom 15. Februar 1984 entnommen werden. Danach regelt Art. 4 Abs. 3 der EWG- Richtlinie Nr. 69/335 Ausnahmen von dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 Buchstabe a dieser Richtlinie, wonach die Gründung einer Kapitalgesellschaft der Gesellschaftsteuer unterliegt. Eine Umwandlung im Sinne des Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie könne daher nur dann vorliegen, wenn eine Gesellschaft gegründet werde, nicht dagegen, wenn einer bereits bestehenden Kapitalgesellschaft Vermögen anwachse. Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie sei insofern eindeutig im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Oktober 1982 (Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415). Eine gegenteilige Auffassung zur Auslegung der Richtlinie werde in der Literatur nicht vertreten; ein Auslegungsstreit bestehe insofern nur hinsichtlich § 7 Abs. 3 Nr. 1 KVStG.

c) Die Beschwerdeführerin hat nicht darlegen können, daß die von ihr befürwortete Gegenauffassung derjenigen des Bundesfinanzhofs eindeutig vorzuziehen ist (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫). Deshalb verletzt die Nichtvorlage nicht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1993, 2864

NVwZ 1993, 883

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge