Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschlussfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG. Verfassungsbeschwerde gegen die gesetzliche Pflichtteilsregelung der §§ 2303 Abs. 1, 2333 BGB

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der einjährigen Frist des § 93 Abs. 3 BVerfGG für Verfassungsbeschwerden direkt gegen Gesetze handelt es sich um eine Ausschlußfrist, mit deren Sinn es nicht vereinbar wäre, eine erst nach ihrem Ablauf geschaffene oder eingetretene Beschwer als ausreichende Grundlage für eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde anzusehen.

2. Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte kann die Berechtigung, den Pflichtteil zu entziehen, vom Erblasser mit einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO geltend gemacht werden. Im Rahmen einer solchen Klage können verfassungsrechtliche Bedenken gegen die angegriffene gesetzliche Regelung geltend gemacht und damit im Fall des Unterliegens der Weg der Verfassungsbeschwerde offengehalten werden. Jedenfalls in einer solchen Lage bestehen gegen die Anwendung des § 93 Abs. 3 BVerfGG offensichtlich keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.(Leitsätze nicht amtlich)

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; BVerfGG § 93 Abs. 3-4; BGB § 2303 Abs. 1, § 2333

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen die gesetzliche Pflichtteilsregelung in den §§ 2303 Abs. 1, 2333 BGB.

  • Der Beschwerdeführer ist ein 82jähriger Kaufmann, der ein Testament errichten will. Er hat zwei noch lebende Söhne und drei Enkelkinder eines vorverstorbenen Sohnes. Mit Ausnahme einer Enkelin haben seine Kinder und Kindeskinder den Kontakt zu ihm abgebrochen. Daher will er seine Abkömmlinge zumindest teilweise enterben. Daran sieht er sich durch das Pflichtteilsrecht gehindert. § 2303 Abs. 1 BGB zwinge ihn, die Hälfte seines Vermögens seinen leiblichen Abkommen zu hinterlassen, sofern nicht der seltene Ausnahmefall der Pflichtteilsunwürdigkeit nach § 2333 BGB vorliege.
  • Mit der am 18. Juni 1996 eingegangenen Rechtssatzverfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer unmittelbar die §§ 2303 Abs. 1, 2333 BGB an. Das gesetzliche Pflichtteilsrecht stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Testierfreiheit dar. Das Pflichtteilsrecht möge als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Erbrechts geeignet und erforderlich gewesen sein, solange die wirtschaftliche Existenz der Angehörigen vom Vermögen des Erblassers abhängig gewesen sei. Das Erbrecht habe aber mit dem Ausbau der Sozialversicherung und der staatlichen Sozialeinrichtungen seine Aufgabe weitgehend verloren, die Hinterbliebenen wirtschaftlich zu versorgen. Daher sei es heute nicht mehr erforderlich, die Testierfreiheit des Erblassers in bezug auf die Hälfte seines Vermögens einzuschränken. Vielmehr sei das Pflichtteilsrecht zumindest dann unverhältnismäßig, wenn die persönlichen Beziehungen abgebrochen und eine völlige Entfremdung eingetreten sei.
  • Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer ausgeführt, daß er von der gesetzlichen Regelung selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sei. Denn er werde in seiner Testierfreiheit bereits zu Lebzeiten beschränkt. Seine weiteren Entscheidungen und Dispositionen hingen von der Verfassungsmäßigkeit der Pflichtteilsvorschriften ab. Ein anderer Rechtsweg als die Verfassungsbeschwerde stehe ihm nicht offen. Es sei ihm nicht zuzumuten, eine vorbeugende negative Feststellungsklage gegen seine Kinder und Kindeskinder zu erheben. Eine Feststellungsklage mit dem Antrag, daß die Pflichtteilsentziehung berechtigt sei, sei von vornherein angesichts der engen Voraussetzungen des § 2333 BGB aussichtslos und würde darüber hinaus jeden familiären Ausgleich von vornherein erschweren.
 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen Grundrechte angezeigt. Denn die Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist unzulässig.

  • Gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG können Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze grundsätzlich nur innerhalb eines Jahres erhoben werden. War ein Gesetz – wie die §§ 2303, 2333 BGB – bereits vor dem 1. April 1951 in Kraft, so konnte die Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 4 BVerfGG nur bis zum 1. April 1952 erhoben werden. Diese Frist ist verstrichen.

    Dies gilt unabhängig davon, ob der 1914 geborene Beschwerdeführer im Jahr 1951/1952 in der Lage war, Rechtssatzverfassungsbeschwerde zu erheben. Zwar lag damals die vom Beschwerdeführer beklagte Entfremdung von seinen Kindern vermutlich noch nicht vor, so daß er sich durch die Pflichtteilsregelungen zu diesem Zeitpunkt wohl nicht beschwert fühlte. Auf die Frage, ob die Beschwer erst nach Ablauf der Jahresfrist eingetreten ist, kommt es jedoch grundsätzlich nicht an. Denn bei der Jahresfrist handelt es sich um eine Ausschlußfrist, mit deren Sinn es nicht vereinbar wäre, eine erst nach ihrem Ablauf geschaffene oder eingetretene Beschwer als ausreichende Grundlage für eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde anzusehen (vgl. BVerfGE 23, 153 ≪164≫; 30, 112 ≪126≫).

  • Die Anwendung dieser Grundsätze führt regelmäßig – und auch im vorliegenden Fall – nicht zu einer verfassungswidrigen Verkürzung des Rechtsschutzes.

    Aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kann hierfür nichts hergeleitet werden. Denn der Begriff der öffentlichen Gewalt im Sinne dieses Grundrechts umfaßt nicht die gesetzgebende Gewalt (vgl. BVerfGE 24, 33 ≪49≫; 45, 297 ≪334≫). Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt sind nur in Art. 93 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 94 Abs. 2 GG sowie in Art. 100 GG enthalten.

    In Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, der 1969 in das Grundgesetz eingefügt worden ist, ist die bereits vorher bestehende einfachrechtliche Regelung des § 90 Abs. 1 BVerfGG – auch – in die Verfassung aufgenommen worden. Wie § 90 Abs. 1 BVerfGG gewährt die genannte Verfassungsnorm den Schutz der Verfassungsbeschwerde auch gegen Akte der gesetzgebenden Gewalt (vgl. BVerfGE 70, 35 ≪49≫; 73, 40 ≪67≫). Damit ist jedoch nicht durchgehend eine unbefristete und unmittelbare Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsnormen garantiert. Denn der einfache Gesetzgeber kann nach Art. 94 Abs. 2 GG das Verfahren der Verfassungsbeschwerde regeln und dabei deren Zulässigkeit grundsätzlich auch von der Einhaltung einer Einlegungsfrist abhängig machen.

    Verfassungsrechtlichen Bedenken könnte die Ausschlußfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG im Hinblick auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG allenfalls begegnen, soweit sie dazu führen würde, daß der Beschwerdeführer bei einer erst nach dem Ablauf der Frist aufgrund der Norm (oder unmittelbar durch diese) eingetretenen Beschwer keine Möglichkeit mehr hätte, die Verfassungswidrigkeit der Norm im Rechtsweg und erforderlichenfalls auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen (vgl. etwa Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Aufl., § 93 Rn. 75 f.). Ob diese Bedenken durchgreifen, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung, weil eine solche Lage im Falle des Beschwerdeführers nicht besteht. Zwar macht der Beschwerdeführer eine Beschwer unmittelbar durch die gesetzliche Pflichtteilsregelung geltend, so daß ihm die Möglichkeit verschlossen ist, den Rechtsweg gegen einen beschwerenden Vollzugsakt zu beschreiten und im Fall des Unterliegens mit der Urteilsverfassungsbeschwerde mittelbar die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung geltend zu machen. Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte kann jedoch die Berechtigung, den Pflichtteil zu entziehen, vom Erblasser mit einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO geltend gemacht werden (vgl. RGZ 92, 1 ≪2 ff.≫; BGHZ 37, 137 ≪144 f.≫; BGH, NJW 1974, S. 1084 ≪1085≫; BGHZ 109, 306 ≪309 f.≫). Im Rahmen einer solchen Klage kann der Beschwerdeführer seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die angegriffene gesetzliche Regelung geltend machen und sich damit im Fall des Unterliegens den Weg der Verfassungsbeschwerde offenhalten. Jedenfalls in einer solchen Lage bestehen gegen die Anwendung des § 93 Abs. 3 BVerfGG offensichtlich keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Diese Entscheidung, ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Seidl, Hömig, Steiner

 

Fundstellen

NJW 1997, 650

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