Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung bei Verzögerungen durch die Post

 

Leitsatz (redaktionell)

Dem Bürger dürfen bei der schriftlichen Einlegung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl oder einen Bußgeldbescheid Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, nicht als ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden zugerechnet werden. Ob der Beschwerdeführer den Einspruch noch früher hätte zur Post geben können, ist unerheblich. Der Bürger darf die ihm vom Gesetz eingeräumte Einspruchsfrist bis zu ihrer Grenze ausnutzen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; StPO § 44 Fassung: 1975-01-07

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Beschluss vom 26.01.1977; Aktenzeichen 13 Qs 33/77 I)

AG Bonn (Beschluss vom 27.12.1976; Aktenzeichen 44 OWi 87 Js 1831/76-882/76)

 

Gründe

A. – I.

Dem Beschwerdeführer wurde am 15. Oktober 1976 ein Bußgeldbescheid über 100 DM wegen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr zugestellt. Nach Rücksprache mit seinem Anwalt fertigte der Beschwerdeführer ein Einspruchsschreiben, das ausweislich des Einlieferungsscheins des Postamts Zeven und des Poststempels am 21. Oktober 1976 (Donnerstag) vor 18 Uhr als Einschreiben zur Post gegeben wurde. Der Brief ging laut Eingangsstempel der Verwaltungsbehörde am 25. Oktober 1976 (Montag), also erst nach Ablauf der Einspruchsfrist am 22. Oktober 1976 zu. Der verspätete Eingang wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt. Er machte daraufhin geltend, daß er die Einspruchsfrist nach seiner Ansicht eingehalten habe. Das Amtsgericht wertete diese Eingabe als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist und holte eine Auskunft des Postamts Bonn ein. Danach muß ein werktags bis 18 Uhr in Zeven eingelieferter Einschreibebrief nach den bestehenden Postverbindungen in der Regel am nächsten Werktag in Bonn zur Zustellung gelangen. Störungen auf dem Beförderungswege oder Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Briefpost, z. B. durch Personalausfälle, könnten die Laufzeit jedoch um einen Tag verlängern.

Das Amtsgericht verwarf mit Beschluß vom 27. Dezember 1976 den Einspruch als verspätet. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte es ab. Der Beschwerdeführer habe angesichts der großen Entfernung zwischen Zeven und Bonn nicht darauf vertrauen dürfen, daß das Schreiben bereits am Tag nach der Aufgabe bei der Verwaltungsbehörde eingehen würde. Bei gehöriger Sorgfalt habe er das Schreiben rechtzeitig absenden können, zumal es bereits am 19. Oktober 1976 verfaßt worden sei.

Das Landgericht Bonn verwarf die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde mit Beschluß vom 26. Januar 1977. Es nahm Bezug auf die Entscheidung des Amtsgerichts und schloß sich dessen Ausführungen an.

II.

Mit der gegen beide Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG. Beigefügt ist eine amtliche Bestätigung des Postamts Zeven; danach erreichen werktags bis 18 Uhr am Schalter abgegebene Briefe am folgenden Werktag die jeweiligen Empfänger im Bundesgebiet.

III.

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, hat von einer Äußerung abgesehen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG es verbieten, § 44 StPO dahin auszulegen, daß dem Bürger bei der schriftlichen Einlegung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl oder einen Bußgeldbescheid Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, als ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden zugerechnet werden (BVerfGE 40, 42; 41, 23; 41, 341; 41, 356; 42, 258). Ob der Beschwerdeführer den Einspruch noch früher hätte zur Post geben können, ist unerheblich. Der Bürger darf die ihm vom Gesetz eingeräumte Einspruchsfrist bis zu ihrer Grenze ausnutzen (BVerfGE 40, 42 (44 f.)).

Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf einer Verkennung dieser Maßstäbe und waren daher aufzuheben. Gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen worden.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.

 

Fundstellen

BVerfGE, 360

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