Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzlicher Richter: Pflicht zur Vorlage an den EuGH. Vertrauensschutz bei Rücknahme eines Währungsausgleichsbescheides

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Auch wenn der BFH von der Beurteilung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage der Vorinstanz abweicht, verletzt er durch Unterlassen der Vorlage an den EuGH i. d. R. den Grundsatz des gesetzlichen Richters nur, wenn er den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat, insbesondere, wenn mögliche Gegenauffassungen bzw. die Rechtsmeinungen der Vorinstanz zum Gemeinschaftsrecht eindeutig bzw. deutlich vorzuziehen sind.

2. Es verstößt nicht gegen den aus Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Vertrauensschutz, der auch gegenüber der Rücknahme oder dem Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes geltend gemacht werden kann, wenn der BFH im Hinblick auf die Möglichkeit einer verbindlichen Zolltarifauskunft das Vertrauen eines Beschwerdeführers in seine Tarifauffassung gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer der Rechtslage entsprechenden Erstattung eines Währungsausgleiches als nicht schutzwürdig ansieht.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGV Art. 177 Abs. 3

 

Verfahrensgang

BFH (Urteil vom 23.10.1985; Aktenzeichen VII R 107/81)

 

Gründe

1. Die Beschwerdeführerin ist nicht in ihren Rechten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung der zuständigen Kammern des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts ist in den Fällen, in denen ein nationales Gericht eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abgelehnt hat, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls dann nicht verletzt, wenn ein Gericht die Vorlageverpflichtung an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 Abs. 3 EWGV mit rechtlich nachvollziehbarer und sachlich einleuchtender Begründung verneint und sich begründete Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Frage durch das Gericht nicht aufdrängen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat; dies ist dann der Fall, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfG, Beschluß vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, EuGRZ 1988, S. 109).

b) Der Bundesfinanzhof hat danach im vorliegenden Fall nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen. Er verneint eine Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EWGV mit der Erwägung, die richtige Auslegung und Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften sei offenkundig. Die hierfür gegebene, an der einschlägigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs orientierte und sich mit den Argumenten der Beschwerdeführerin auseinandersetzende Begründung ist rechtlich vertretbar. Der Bundesfinanzhof hat sich in seiner Entscheidung an den Grundsätzen der maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Zolltarifrecht orientiert und die Entscheidung nach einer umfassenden Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs getroffen. Begründete Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung des Bundesfinanzhofs drängen sich nicht in einer Weise auf, daß die Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof unvertretbar erscheint. Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde zwar geltend, daß der Bundesfinanzhof maßgebliche Auslegungsgrundsätze verkannt habe und daß die Auslegungsfehler nicht mehr verständlich erschienen. Aus ihrem Vorbringen läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß die von ihr vertretene Auffassung zu der gemeinschaftsrechtlichen Frage deutlich den Vorzug vor der vom Bundesfinanzhof vertretenen Rechtsmeinung verdient.

c) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist auch nicht im Hinblick darauf verletzt, daß das Finanzgericht in der ersten Instanz der Klage stattgegeben hat und der Bundesfinanzhof in seinem Urteil von dieser Vorentscheidung abgewichen ist. Zwar kann die abweichende Entscheidung der Vorinstanz für das letztinstanzliche nationale Gericht eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 EWGV nahelegen. Die Frage des gesetzlichen Richters ist aber auch in diesen Fällen eine Frage des innerstaatlichen Rechts, die an den für Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entwickelten Maßstäben geprüft werden muß.

Auch hier wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht mit einleuchtender und nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis kommt, daß die Vorinstanz die maßgebenden Auslegungsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts verkannt habe. Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird in der Regel auch in diesen Fällen nur dann festgestellt werden können, wenn die von der Vorinstanz vertretene Rechtsmeinung im Hinblick auf die Auslegungsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts deutlich der vom letztinstanzlichen Hauptsachegericht vertretenen Auffassung vorzuziehen ist.

Der Bundesfinanzhof hat im vorliegenden Fall überzeugend dargelegt, daß sich die Vorinstanz nicht hinreichend an der einschlägigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs orientiert habe. Die von der Beschwerdeführerin hiergegen vorgetragenen Argumente ergeben nichts dafür, daß der Bundesfinanzhof seinen Beurteilungsspielraum insoweit in unvertretbarer Weise überschritten hat. Das Urteil des Bundesfinanzhofs verstößt damit nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

2. Das Urteil des Bundesfinanzhofs verletzt die Beschwerdeführerin auch nicht in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Zu den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden verfassungsrechtlichen Geboten gehört grundsätzlich auch die Möglichkeit, gegenüber einer Rücknahme oder einem Widerruf begünstigender Verwaltungsakte Vertrauensschutz geltend zu machen (BVerfGE 59, 128 ≪152≫). Das Prinzip der Beachtung des Vertrauensschutzes führt jedoch nicht zu dem Ergebnis, daß jegliche einmal erworbene Position ungeachtet der wirklichen Rechtslage Bestand haben muß. Es nötigt vielmehr zu der an den Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit im Einzelfall vorzunehmenden Prüfung, ob jeweils die Belange des Allgemeinwohls – wie etwa die Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – oder die Interessen des einzelnen am Fortbestand der Rechtslage, auf die er sich eingerichtet hat oder auf deren Fortbestand er vertraute, den Vorrang verdienen (BVerfGE 59, 128 ≪166≫).

Der Bundesfinanzhof hat das Gebot des Vertrauensschutzes hinreichend beachtet. Er hat das Interesse der Beschwerdeführerin an der Aufrechterhaltung der Währungsausgleichsbescheide berücksichtigt und geprüft, ob das Vertrauen der Beschwerdeführerin in den Bestand dieser Bescheide schutzwürdig war. Der Bundesfinanzhof hat dabei den Umfang und die Reichweite des Vertrauensschutzes nicht verkannt.

Es ist schon fraglich, ob die Beschwerdeführerin sich für ihren Vertrauensschutz allein darauf berufen kann, daß sie im Hinblick auf die Bewilligung des Währungsausgleichs die jeweiligen Geschäfte endgültig abgewickelt und weitere Geschäfte abgeschlossen habe, denn die vom Bundesfinanzhof vorgenommene Abwägung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Es verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, wenn der Bundesfinanzhof im Hinblick auf die Möglichkeit einer verbindlichen Zolltarifauskunft das Vertrauen der Beschwerdeführerin in ihre Tarifauffassung gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer der Rechtslage entsprechenden Erstattung eines Währungsausgleichs als nicht schutzwürdig ansieht.

Da auch im übrigen eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin nicht erkennbar ist, hat die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1556450

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