Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungswichtigkeit des Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 8 EStG für die VZ 1983 bis 1985

 

Leitsatz (amtlich)

§ 32 Abs. 8 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 war mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; BKGG § 10 Abs. 2; EStG § 32 Abs. 8; HBegleitG 1983 Art. 13

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg (Beschluss vom 01.03.1988; Aktenzeichen I K 337/85)

FG Baden-Württemberg (Beschluss vom 02.09.1986; Aktenzeichen I K 337/85)

 

Tatbestand

A.

Die Vorlage betrifft die Frage, ob der von § 32 Abs. 8 EStG für die Veranlagungszeiträume 1983, 1984 und 1985 festgesetzte Kinderfreibetrag mit Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar war.

I.

Das Einkommensteuergesetz hatte ursprünglich unter bestimmten Voraussetzungen einen Kinderfreibetrag gewährt. Für die Zeit von 1975 an schaffte ihn der Gesetzgeber zugunsten eines gestaffelten Kindergeldes ersatzlos ab (vgl. dazu BVerfGE 43, 108 [1] )). Vom Jahre 1983 an wurde er durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S. 1857) – bei grundsätzlicher Beibehaltung der Kindergeldzahlungen – wieder eingeführt. Für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 traf hierzu § 32 Abs. 8 EStG folgende Regelung:

Für jedes Kind des Steuerpflichtigen im Sinne der Absätze 4 bis 7 wird ein Kinderfreibetrag von 432 Deutsche Mark gewährt. Für jedes Kind des Steuerpflichtigen im Sinne des Absatzes 4 Satz 1, der Absätze 5 bis 7, das nach Absatz 4 Sätze 2 und 3 dem anderen Elternteil zugeordnet wird und demgegenüber der Steuerpflichtige seiner Unterhaltsverpflichtung für den Veranlagungszeitraum nachkommt, wird ein Kinderfreibetrag von 216 Deutsche Mark gewährt. Werden Ehegatten nach den §§ 26, 26 a getrennt veranlagt, so erhält jeder Ehegatte den Kinderfreibetrag zur Hälfte, soweit nicht ein Kinderfreibetrag nur einem der Ehegatten zu gewähren ist.

II.

1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde für das Jahr 1984 mit seiner Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Dabei waren zwei Kinder steuerlich zu berücksichtigen: Die 1967 geborene Tochter A. war zum Besuch der Schule auswärts untergebracht, die ebenfalls 1967 geborene Tochter S. besuchte ein Berufskolleg und eine Fachhochschule. Das Kindergeld für beide betrug – nach § 10 Abs. 2, § 11 BKGG gekürzt – insgesamt 1.440 DM.

In der gemeinsamen Einkommensteuererklärung machten die Eheleute Aufwendungen für Schulgeld, Verpflegung, Unterkunft und Fahrten in Höhe von 11.248 DM und für Schulmittel und Fahrtkosten in Höhe von 1.018 DM als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 Abs. 1 EStG geltend. Das Finanzamt gewährte hingegen nur einen Ausbildungsfreibetrag gemäß § 33 a Abs. 2 Nr. 2 EStG von 900 DM für die auswärtig untergebrachte Tochter sowie Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 8 EStG in Höhe von 864 DM für beide Töchter. Eine außergewöhnliche Belastung durch die Schulausbildung sei nicht gegeben, weil der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens-, Vermögens- und Familienverhältnisse ebenfalls Kosten für die Berufsausbildung von Kindern erwüchsen. Nach erfolglosem Einspruch verfolgte der Kläger sein Begehren mit der Klage weiter.

2. Das Finanzgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 32 Abs. 8 EStG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei.

Der Rechtsstreit habe der Sache nach die Abzugsfähigkeit von laufenden Unterhaltsaufwendungen zum Gegenstand, die nur durch den Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 8 EStG abgegolten seien. Die Entscheidung hänge somit von der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift ab.

a) § 32 Abs. 8 EStG verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, der eine gerechte Besteuerung gebiete. Den Maßstab bilde dabei der Grundsatz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der als wesentlichen Bestandteil enthalte, daß das Existenzminimum der Steuerpflichtigen steuerfrei bleiben müsse. Diesen elementaren Grundsatz könne der Gesetzgeber nicht durch andere für die gerechte Verteilung von Steuerlasten heranziehbare Maßstäbe abschwächen oder gar aufheben. Steuerfrei müßten nicht nur die Aufwendungen für das eigene Existenzminimum des Steuerpflichtigen bleiben, sondern auch die Bedürfnisse derjenigen Personen, für deren Existenz dieser einzustehen habe.

Für 1984 sei davon auszugehen, daß ein durchschnittliches Elternpaar sogar mehr als den zur Befriedigung des Existenzminimums erforderlichen Betrag habe aufwenden müssen. Diesen Betrag habe der Gesetzgeber damals auf 4.200 DM veranschlagt, wie aus den in § 32 a Abs. 1 und § 33 a Abs. 1 EStG verwendeten Beträgen ersichtlich sei. Das werde durch die im Sozialhilferecht festgelegten Beträge bekräftigt. Der Sozialhilferegelsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 22 Bundessozialhilfegesetz (Regelsatzverordnung) habe 1984 für Baden-Württemberg im Ergebnis einen Jahresbetrag von 4.230 DM erreicht, was den Beträgen nach §§ 32 a Abs. 1, 33 a Abs. 1 EStG entsprochen habe. Der Blick auf die Verordnung bestätige im übrigen, daß es sich bei dem Betrag von 4.200 DM um eine untere Grenze handele; denn die nach der Regelsatzverordnung insgesamt zu erbringenden Leistungen überstiegen diesen Satz erheblich.

Der Kindesunterhalt mindere danach die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern zwangsläufig um mindestens 4.200 DM je Kind im Jahr. Davon sei nur der Betrag des Kindergeldes abzuziehen, welcher für das Kind gezahlt werde. Der Kinderfreibetrag erreiche den nach den Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland und nach der Grundvorstellung des Gesetzgebers anzusetzenden Belastungsbetrag bei weitem nicht. Die Gegenüberstellung mit den Verhältnissen des Streitfalles belege das Ausmaß der Realitätsferne. Dieses ändere sich nicht einmal wesentlich bei Ansatz des vollen Kindergeldes anstelle des konkret geleisteten Sockelbetrages.

Wie unzureichend die steuerliche Entlastung sei, werde schließlich deutlich, wenn die der Familie des Klägers im Falle der Einkommens- und Vermögenslosigkeit zustehenden Sozialhilfeleistungen – fiktiv – einer Einkommensteuerveranlagung unterzogen würden; denn dann müßte sogar Einkommensteuer entrichtet werden. Um ein derart sinnwidriges Ergebnis zu vermeiden, müßten im Ausgangsfall für zwei Kinder Freibeträge von mindestens 6.334 DM eingeräumt werden. Erst dann ergebe sich ein zu versteuerndes Einkommen von 8.531 DM, dem höchsten Betrag, der im Jahre 1984 bei Anwendung der Splitting-Tabelle unbesteuert geblieben sei.

b) Die begrenzte Abzugsfähigkeit von Unterhaltsaufwendungen für Kinder im Streitjahr verstoße auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Der Staat dürfe danach den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht erschweren. Dies geschehe jedoch, wenn er zwar das Existenzminimum und angemessene Vorsorgeaufwendungen des Steuerpflichtigen und seines Ehegatten steuerfrei lasse, aber nur einen Bruchteil des Betrages, den sie nach Abzug des Kindergeldes für die Existenzsicherung ihrer Kinder benötigten, von der Besteuerung freistelle.

Die Unzulänglichkeit des Kinderfreibetrags zeige sich auch daran, daß der Steuerpflichtige für eine Person ohne Kindergeldanspruch nach § 33 a Abs. 1 EStG Unterhaltsaufwendungen bis 3.600 DM absetzen könne. Die Kindergeldzahlung gleiche diese Schlechterstellung nicht hinreichend aus.

c) Auf den als Existenzminimum anzusetzenden Betrag dürften die den Eltern für ihre Kinder oder diesen unmittelbar zufließenden Leistungen nur in tatsächlicher Höhe angerechnet werden. Die Entscheidung BVerfGE 43, 108 [2] ) fordere nicht, Kindergeld auf fiktive Kinderfreibeträge hochzurechnen. Der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit werde nur bei einer Kürzung um die tatsächlich gezahlten Beträge gewahrt. Das Einkommen werde nach geltender einkommensteuerrechtlicher Systematik durch den Abzug des Kinderfreibetrags als pauschalierten allgemeinen Kindesunterhalt gemindert. Die Bemessungsgrundlage werde unabhängig von den eventuellen tariflichen Auswirkungen ermittelt. Infolgedessen müßten letztere bei der Ermittlung der verfassungsrechtlich zutreffenden Höhe des Kinderfreibetrags außer Betracht bleiben. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Zuwendungsempfängers erhöhe sich auch nur um die tatsächlich gezahlten und nicht um die hochgerechneten fiktiven „Unterhaltszuschüsse”.

III.

Zum Vorlagebeschluß haben sich der Bundesminister der Finanzen für die Bundesregierung, der Bundesfinanzhof, der Verband Alleinstehender Mütter und Väter, der Deutsche Familienverband, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, der Familienbund der Deutschen Katholiken und der Bund der Steuerzahler geäußert.

1. Der Bundesminister hält die Vorlage für unzulässig. Sie widerspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach für die verfassungsrechtliche Würdigung, ob die wirtschaftliche Entlastung der Eltern für den Kindesunterhalt verfassungsrechtlichen Maßstäben genüge, von einer Gesamtbetrachtung aller einschlägigen steuer- und sozialrechtlichen Regelungen sowie sonstigen Entlastungen auszugehen sei (BVerfGE 43, 108 [123 f.] [3] ); 61, 319 [354] [4] )). Die Vorlage beruhe auf der Annahme, das Bundesverfassungsgericht habe sich bislang nicht über die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit der gemischten sozial- und steuerrechtlichen Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen geäußert. Sie verkenne damit die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und übergehe § 31 Abs. 1 BVerfGG. Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise eine erneute Vorlage zulässig sei, lägen nicht vor.

Im übrigen sei die Auffassung des vorlegenden Gerichts auch in der Sache unbegründet. Das Bundesverassungsgericht habe die nach dem Steuerreformgesetz 1975 geltenden Entlastungen für verfassungsgemäß erklärt (BVerfGE 43, 108 [5] )). Die Entlastungen im Jahre 1984 hätten den Stand von 1975 aber überstiegen und den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch bei Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Erhöhung der Lebenshaltungskosten entsprochen. Die damalige Entscheidung sei nicht überholt; es gebe keine spätere, in der sich ein Wandel der Rechtsprechung andeute. Das Grundgesetz habe in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern eine besondere, eigenständige Bedeutung zuerkannt. Dem entspreche es, daß sich Steuerpflichtige durch Aufwendungen im Sinne von § 33 a Abs. 1 EStG im allgemeinen härter betroffen fühlten als durch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Kindern. Mit Recht habe deshalb das Bundesverfassungsgericht in seine Bewertungen alle staatlichen Entlastungen für den Kindesunterhalt in einer Gesamtschau einbezogen. Dazu gehörten nicht nur der Kinderfreibetrag und das Kindergeld, sondern auch alle Kinderadditive sowie die Leistungen nach dem BAföG, dem Wohnungsbau- und Sparprämiengesetz sowie dem Wohngeldgesetz. Auch seien die öffentlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen nicht zu übersehen. Diese umfangreiche Palette staatlicher Entlastungsmaßnahmen lasse sich nicht in das Schema einspannen, das nach den Grundsätzen der Entscheidungen BVerfGE 66, 214 [6] ); 67, 290 [7] ) für einen Vergleich am Maßstab der sozialhilfe-rechtlichen Regelsätze vorgegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht habe demgemäß nie den Versuch unternommen, die Gesamtheit der staatlichen Entlastungen für den Kindesunterhalt in einer Rechenoperation generalisierend zu beziffern. Damit sei auch ein zahlenmäßiger Vergleich kindbedingter Steuerentlastungen mit dem sozialhilferechtlichen Mindestsatz, wie ihn das vorlegende Gericht vornehme, nicht geboten. Wollte man den sozialhilferechtlichen Regelsatz dennoch einer Berechnung zugrunde legen, so ergebe sich im Ausgangsfall für die beiden Töchter ein Ansatz von 3.807 DM und nicht von 4.200 DM.

Das Kindergeld müsse bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung in fiktive Kinderfreibeträge umgerechnet werden. Eine solche Berechnung ergebe, daß sowohl im Vergleichsjahr 1975 als auch im Streitjahr 1984 die Summe des dem Kindergeld entsprechenden Abzugsbetrags, des Kinderfreibetrags und des zusätzlichen Sonderausgabenhöchstbetrags nach § 10 Abs. 3 Nrn. 1 und 3, § 10 c Abs. 3 EStG – selbst bei Vernachlässigung aller anderen staatlichen Entlastungen – den maßgebenden sozialhilferechtlichen Regelsatz erreiche, ja sogar übersteige, jedenfalls aber zu einer verfassungsrechtlich ausreichenden Entlastung führe.

2. Der Bundesfinanzhof verweist auf seine Rechtsprechung, aus der sich keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 8 EStG entnehmen ließen.

3. In den anderen Stellungnahmen wird im wesentlichen der Auffassung des vorlegenden Gerichts zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die Vorlage ist zulässig.

1. Die allgemeinen Voraussetzungen, von denen die Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG abhängt, liegen vor; insbesondere bestehen an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage für das Ausgangsverfahren keine Zweifel. Auch die Gründe, die das vorlegende Gericht für die Verfassungswidrigkeit des § 32 Abs. 8 EStG geltend macht, sind hinreichend deutlich dargetan. Das Finanzgericht hat zwar verkannt, daß in den Berechnungen, die die verfassungsrechtliche Beurteilung des geltenden Familienlastenausgleichs notwendig macht, das gesetzliche Kindergeld nicht einfach als Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern gewertet werden darf, sondern in einen – fiktiven – Kinderfreibetrag umgerechnet werden muß (vgl. BVerfG, Beschluß vom 29. Mai 1990 – 1 BvL 20/84 u.a. –, C III 4 a [8] )). Seine Rechtsauffassung ist jedoch nicht offensichtlich unhaltbar und daher vom Bundesverfassungsgericht bei der Zulässigkeitsprüfung zugrunde zu legen (vgl. BVerfGE 62, 223 [229], m.w.N.; st. Rspr.).

2. Auch die Bindungswirkung früherer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG steht der Zulässigkeit der Vorlage nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit schon mehrfach über Fragen des Familienlastenausgleichs entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 43, 108 [9] ); 45, 104 [10] ); 61, 319 [11] )). Aber abgesehen davon, daß es an diese Entscheidungen und die dort entwickelten verfassungsrechtlichen Grundsätze selbst nicht gebunden ist (vgl. BVerfGE 77, 84 [104], m.w.N.), sind alle diese Entscheidungen zu der durch das Einkommensteuerreformgesetz vom 5. August 1974 (BGBl I S. 1769) geschaffenen Rechtslage ergangen. Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes haben sich wesentliche Veränderungen ergeben, die auch die zuständigen Fachgerichte zur erneuten Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG berechtigen (vgl. BVerfGE 33, 199 [204]; 70, 242 [249 f.]; 78, 38 [48]; st. Rspr.). So hat der Gesetzgeber durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 erstmals seit 1975 wieder einen Kinderfreibetrag eingeführt und damit nach seiner eigenen Bekundung den erneuten Einstieg in ein duales System des Familienlastenausgleichs eingeleitet. Dieser Weg ist seither durch wiederholte Erhöhungen der gesetzlichen Kinderfreibeträge fortgesetzt worden. Außerdem hat die wirtschaftliche Entwicklung zu veränderten Vorstellungen über jene finanziellen Beträge geführt, die zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich sind; die wiederholte Anpassung der Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz, die gerade diesem Zweck dienen sollen, sind ein ausreichendes Indiz dafür.

C.

§ 32 Abs. 8 EStG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 ist verfassungsrechtlich im gleichen Umfang und aus den gleichen Gründen zu beanstanden wie § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes in den Jahren 1983 bis 1985 (vgl. BVerfG, Beschluß vom 29. Mai 1990 – 1 BvL 20/84 u.a. –, C III [12] )). Verletzt ist insoweit Art. 3 Abs. 1 GG, bei dessen Anwendung die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie mit zu beachten ist (a.a.O., C III 3 a).

I.

Das Bundesverfassungsgericht ist in der genannten Entscheidung im wesentlichen von den folgenden Überlegungen ausgegangen:

1. Der gesetzliche Familienlastenausgleich kann nur einheitlich auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft werden, auch wenn er – wie hier – durch mehrere Vorschriften bewirkt wird, die unterschiedlichen Rechtsgebieten angehören. So steht es der verfassungsrechtlichen Beanstandung des § 10 Abs. 2 BKGG nicht entgegen, daß der Gesetzgeber eine unzureichende Kindergeldregelung durch die Gewährung eines Kinderfreibetrags im Einkommensteuerrecht ergänzt hat. Entscheidend ist vielmehr der Gesamtbetrag, der sich durch die Zusammenrechnung beider Vergünstigungen ergibt (a.a.O., C III 1). Ist durch eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht das Bundeskindergeldgesetz, sondern die Freibetragsregelung des § 32 Abs. 8 EStG zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt, so kann auch deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt werden.

2. Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung ist der Grundsatz, daß der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muß, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein, das heißt zur Sicherung seines Existenzminimums, benötigt wird. Dabei folgt aus Art. 6 Abs. 1 GG, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß (a.a.O., C III 2).

3. Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung einer Familienlastenausgleichs-Regelung, bei der die Gewährung eines Kindergeldes und die Absetzung eines Kinderfreibetrags vom zu versteuernden Einkommen nach dem Einkommensteuergesetz kombiniert sind, muß das gesetzliche Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerechnet und dann zusammen mit dem im Einkommensteuerrecht vorgesehenen Freibetrag dem tatsächlichen Betrag des Existenzminimums gegenübergestellt werden. Andere steuerliche Vergünstigungen für Kinder können, da sie nicht für den Grundbedarf bestimmt sind, nicht in die vergleichende Betrachtung eingestellt werden (a.a.O., C III 4).

II.

Im Beschluß vom 29. Mai 1990 [13] ) hat das Bundesverfassungsgericht die Summe aus dem Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 8 EStG und dem Umrechnungswert des Kindergeldes nach dem Bundeskindergeldgesetz mit dem durchschnittlichen Existenzminimum eines Kindes zur fraglichen Zeit verglichen und ist dabei zu der Feststellung gelangt, daß das nach § 10 Abs. 2 BKGG gekürzte Kindergeld im Zusammenhang mit dem Kinderfreibetrag „jedenfalls in einem wesentlichen Teil der Fälle nach der in den Streitjahren bestehenden Rechtslage offensichtlich nicht ausreichte, um der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen mit Kindern in Höhe des Existenzminimums der Kinder Rechnung zu tragen” (C III 4 d). Da es zu diesem Ergebnis – trotz des beschränkten Anwendungsbereichs von § 10 Abs. 2 BKGG – unter Einbeziehung des für das erste Kind vorgesehenen, keiner Kürzung ausgesetzten Kindergeldes gelangt ist (a.a.O., C III 4 b), steht damit zugleich fest, daß die gesamte bis zum 31. Dezember 1985 gültig gewesene Regelung des Familienlastenausgleichs den Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht gerecht geworden ist.

Dasselbe ergibt sich, wenn man die a.a.O., C III 4 d, enthaltene Übersicht auf Familien mit nur einem Kind erstreckt. Einer Sozialhilfeleistung von 3.816 DM sowie einem durchschnittlichen Unterhaltsaufwand von 4.680 DM oder 5.640 DM – jeweils berechnet für das Jahr 1982 – standen danach zur fraglichen Zeit bei einem angenommenen Steuersatz von 30 vom Hundert fiktive Absetzungsmöglichkeiten in Höhe von 2.432 DM, bei 40 vom Hundert in Höhe von 1.932 DM und bei 56 vom Hundert in Höhe von 1.503 DM gegenüber. Auch das entsprach nicht den vorstehend entwickelten verfassungsrechtlichen Grundsätzen.

Die daraus folgende Feststellung, daß auch § 32 Abs. 8 EStG verfassungswidrig war, beschränkt sich auf die Zeit bis zum 31. Dezember 1985. Mit der Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrags vom 1. Januar 1986 an ist eine neue Rechtslage eingetreten, die nicht zur Prüfung des Bundesverfassungsgerichts gestellt ist.

Die Vorschrift kann auch für den genannten Zeitraum nicht für nichtig, sondern nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden. Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. Es steht ihm frei, diese Rechtsänderung durch eine Erhöhung des Kindergeldes, durch eine Änderung des Steuerrechts oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen.

 

Fundstellen

BStBl II 1990, 664

BVerfGE, 198

NJW 1990, 2876

DVBl. 1990, 884

[1] BStBl II 1977, 135
[2] BStBl II 1977, 135
[3] BStBl II 1977, 135
[4] BStBl II 1982, 717
[5] BStBl II 1977, 135
[6] BStBl II 1984, 357
[7] BStBl II 1985, 22
[8] BStBl II 1990, 653
[9] BStBl II 1977, 135
[10] BStBl II 1977, 526
[11] BStBl II 1982, 717
[12] BStBl II 1990, 653
[13] BStBl II 1990, 653

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