Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei verzögerter Postbeförderung und Zustellung nach Poststreik

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Verzögerung der Zustellung eines fristwahrenden Schriftsatzes durch die Deutsche Bundespost durfte, nachdem Streikmaßnahmen bei der Post seit mindestens sieben Tagen beendet waren, dem Prozeßbevollmächtigten nicht als Verschulden angerechnet werden, zumal der Schriftsatz drei Tage vor dem Ende der Frist zur Post gegeben worden war, so daß zusätzlich eine gewisse zeitliche Sicherung gegen nachwirkende poststreikbedingte Verzögerungen gegeben war.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LG Darmstadt (Beschluss vom 15.07.1992; Aktenzeichen 6 S 147/92)

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründung in einem zivilgerichtlichen Verfahren in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.

1. Der Beschwerdeführer machte mit der Klage vor dem Amtsgericht einen Schadensersatzanspruch geltend. Gegen das ihm am 30. März 1992 zugegangene klagabweisende Urteil des Amtsgerichts vom 11. März 1992 legte er durch seinen Prozeßbevollmächtigten – dessen Kanzlei über einen Telefaxanschluß verfügt – Berufung ein. Die Berufungsschrift ging beim Landgericht Darmstadt am 18. April 1992 ein. Mit weiterem Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers vom 15. Mai 1992 wurde die Berufung begründet. Dieser Schriftsatz war am Freitag, dem 15. Mai 1992, zwischen 16.00 Uhr und 16.30 Uhr als normaler Brief in einen Briefkasten in Rüsselsheim eingeworfen worden, der spätestens um 18.30 Uhr geleert wurde. Beim Landgericht in Darmstadt ging dieser Schriftsatz erst am Dienstag, dem 19. Mai 1992, ein.

Nach der gerichtlichen Mitteilung an den Beschwerdeführer, daß die Berufungsbegründungsfrist versäumt sei, beantragte dieser die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er machte geltend, die normale Postlaufzeit für die Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost zwischen Rüsselsheim und Darmstadt nehme einen Tag in Anspruch. Somit hätte unter Zugrundelegung der Regellaufzeit von Briefen zwischen Rüsselsheim und Darmstadt die Berufungsbegründung vom 15. Mai 1992 noch vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 18. Mai 1992 beim Landgericht Darmstadt eingehen müssen. Selbst bei Zugrundelegung eines zusätzlichen Brieflauftages hätte die Berufungsbegründung bei Gericht noch spätestens am 18. Mai 1992 eingehen müssen.

Eine Erklärung der verzögerten Zustellung durch die Deutsche Bundespost könne in dem auslaufenden Poststreik von April/Mai 1992 gesehen werden. Aufgrund des bundesweiten Streiks der Deutschen Bundespost hätten hunderttausende von unbearbeiteten Postsendungen auf Post- und Postverteilungsämtern gelagert. Nach Beendigung des Poststreiks hätte die Zustellung fristgerecht stattfinden müssen. Sofern die Zustellung der Berufungsbegründung durch die Deutsche Bundespost aufgrund eines Bearbeitungsstaues verzögerlich durchgeführt worden sei, sei dies unmittelbarer Ausfluß des Poststreiks, somit höhere Gewalt und nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen.

Mit Beschluß vom 15. Juli 1992 wies das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurück. Eine unverschuldete Fristversäumung, welche die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnte, liege nicht vor. Vielmehr müsse sich der Beschwerdeführer das Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten anrechnen lassen. Es sei richtig, daß sich ein Anwalt bei der Versendung fristgebundener Schriftsätze auf dem normalen Postweg grundsätzlich auf die übliche Postlaufzeit für die Briefbeförderung durch die Post verlassen könne und daß deshalb einer Partei bei Verzögerung der Briefbeförderung infolge von der Post zu vertretenden Gründen Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Dies gelte jedoch nur in Zeiten eines grundsätzlich störungsfreien Postverkehrs. Ein solcher sei in der hier fraglichen Zeit jedoch nicht gegeben gewesen. Es sei allgemein bekannt gewesen und hätte auch dem Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers bekannt sein müssen, daß nach Beendigung des Streiks im öffentlichen Dienst und bei der Deutschen Bundespost erhebliche Rückstände aufgelaufen gewesen seien, mit deren Abbau nur allmählich hätte gerechnet werden können. Infolge dieser bei jedem Streik üblichen Nachwirkungen nach Beendigung des Streiks habe der Anwalt mit Verzögerungen bei der Briefbeförderung rechnen müssen, was in den Medien allgemein bekannt gegeben worden sei. Wegen dieser Unsicherheit bei der Postbeförderungszeit habe sich der Anwalt des Beschwerdeführers drei Tage vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht auf eine störungsfreie Briefbeförderung verlassen dürfen, sondern habe bei sorgfältiger Erfüllung seiner Pflichten einen anderen Weg wählen müssen, um für einen rechtzeitigen Eingang des Berufungsbegründungsschriftsatzes beim Landgericht zu sorgen. Ein sorgfältiger Anwalt hätte unter den gegebenen Umständen von seinem vorhandenen Telefax-Gerät Gebrauch gemacht und den Schriftsatz an das Landgericht, dessen Telefax-Nummer dem Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers bekannt gewesen sei, „gefaxt”. Dies sei keine überspannte Anforderung an den Umgang mit dem Kommunikationsmittel Telefax. Der Einsatz dieses Gerätes zum schnellen Austausch von schriftlichen Nachrichten sei heute allgemein üblich und weit verbreitet, insbesondere bei Fristsachen sei die fristwahrende Wirkung dieser Übermittlungsart allgemein anerkannt. Es sei daher dem Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers unter den gegebenen besonderen Umständen zumutbar gewesen, den Berufungsbegründungsschriftsatz nicht auf den normalen Postbeförderungsweg zu bringen, sondern ihn entweder persönlich zum Landgericht zu bringen oder ihn per Telefax zu übermitteln.

2. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe gegen diese Verfassungsnorm verstoßen, indem es zu Unrecht das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen habe. Bei der Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürften dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung und Zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden. Nachdem der Streik im öffentlichen Dienst bei der Deutschen Bundespost länger als eine Woche beendet gewesen sei, habe er darauf vertrauen dürfen, daß die regelmäßige Postlaufzeit von einem Tag zwischen Rüsselsheim und Darmstadt eingehalten werde. Selbst unter Zugrundelegung eines weiteren Postlauftages wäre der Berufungsbegründungsschriftsatz rechtzeitig beim Landgericht Darmstadt eingegangen.

3. Eine beim Postamt Rüsselsheim eingeholte Auskunft hat ergeben, daß eine am Freitag, dem 15. Mai 1992, in Rüsselsheim eingelieferte Briefsendung am Samstag, dem 16. Mai 1992, beim Postamt Darmstadt hätte eingehen und zugestellt werden müssen. Angenommene Sendungen aus dem Bereich des Postamts Rüsselsheim seien jeden Tag zum Postamt in Wiesbaden „abgewiesen” worden. Zwischen dem 5. und 8. Mai sei das Postamt Wiesbaden bestreikt worden, so daß an diesen vier Tagen keine Sendung hätte abgewiesen werden können. Eine Befragung der Postämter Wiesbaden und Darmstadt habe ergeben, daß das Postamt Wiesbaden am 15. und 16. Mai 1992 keine Unregelmäßigkeiten aufgezeichnet habe. Dort seien die streikbedingten Rückstände am 13. Mai restlos aufgearbeitet gewesen. Das Postamt Darmstadt habe streikbedingte Rückstände bis zum 16. Mai 1992 verzeichnet und schließe daher eine Verzögerung von bis zu zwei Tagen nicht aus.

 

Entscheidungsgründe

II.

Der Ministerpräsident des Landes Hessen hält in seiner Stellungnahme die Verfassungsbeschwerde für begründet.

Die angegriffene Entscheidung verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Solange für die Beförderung von Sendungen mit schriftlicher Mitteilung ein ausschließlicher Beförderungsvorbehalt der Deutschen Bundes Postdienst (vgl. § 2 Abs. 1 des Postgesetzes) bestehe, der jedermann zur Verfügung stehe, brauche sich der Bürger auf alternative Übermittlungsmöglichkeiten grundsätzlich nicht verweisen zu lassen. Jede andere Betrachtungsweise, die im Rahmen einer Zumutbarkeitsprüfung die möglichen Übermittlungsalternativen abwägen müßte, die dem Bürger nach seinen Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, würde zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit führen.

Allerdings hätten einige Fachgerichte in Zusammenhang mit dem Poststreik im Frühjahr 1992 die Auffassung vertreten, daß ein zum Prozeßbevollmächtigten bestellter Rechtsanwalt schuld- haft handele, wenn er bei alsbald ablaufender Rechtsmittelfrist einen Schriftsatz trotz angekündigter oder bereits eingetretener streikbedingter Störungen des Postverkehrs absende und ohne weiteres Zutun auf den rechtzeitigen Zugang vertraue. Ob die Gerichte damit die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines zum Prozeßbevollmächtigten bestellten Rechtsanwalts zutreffend bestimmt hätten, könne dahingestellt bleiben. Im hier zu entscheidenden Fall seien die Streikmaßnahmen seit mindestens sieben Tagen beendet gewesen. Bei dieser Sachlage habe für den Prozeßbevollmächtigten keine hinreichende Veranlassung bestanden, nicht auf die normalen Postlaufzeiten zu vertrauen.

III.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93 b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die von dieser nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪29≫; 62, 216 ≪221≫). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 54, 80 ≪84≫; m.w.N., st. Rspr.).

2. Das Landgericht hat diese Grundsätze nicht hinreichend beachtet.

Als die Briefsendung am Freitag, dem 15. Mai 1992, zwischen 16.00 Uhr und 16.30 Uhr in den Briefkasten in Rüsselsheim geworfen wurde, waren die Streikmaßnahmen bei der Deutschen Bundespost seit mindestens sieben Tagen beendet. Es ist nicht ersichtlich, daß die Postbenutzer allgemein oder diejenigen des Postamtes Rüsselsheim speziell darauf hingewiesen wurden, daß es bei der Zustellung an anderen Orten noch zu Verzögerungen kommen könne. Bei dieser Sachlage bestand für den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers kein zwingender Anlaß, nicht auf die normalen Postlaufzeiten zu vertrauen. Auch war die Berufungsbegründung drei Tage vor dem Ende der Berufungsbegründungsfrist von ihm zur Post gegeben worden, so daß zusätzlich eine gewisse zeitliche Sicherung gegen nachwirkende poststreikbedingte Verzögerungen gegeben war. Demgemäß durfte das Landgericht nicht davon ausgehen, daß der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, weil er mit einer Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post habe rechnen und deshalb für eine Übermittlung der Berufungsbegründung auf andere Weise hätte sorgen müssen.

Die angegriffene Entscheidung beruht auf diesem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte, wenn es den dargelegten Anforderungen hinreichend Rechnung getragen hätte.

IV.

Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1994, 244

Mitt. 2015, 347

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