Entscheidungsstichwort (Thema)

Zugang eines Schriftstücks bei Gericht

 

Leitsatz (amtlich)

Es ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, wenn ein Gericht den Eingang eines fristgebundenen Schriftsatzes in einem Zivilprozeß deshalb als verspätet ansieht, weil der rechtzeitig in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangte Schriftsatz nicht innerhalb der Frist von dem zu seiner Entgegennahme zuständigen Bediensteten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen worden sei.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Etwaige Fristversäumungen, die auf Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht beruhen, dürfen dem Bürger nicht angelastet werden.

2. § 207 Abs. 2 ZPO wird nicht nur wegen der generellen Einführung des Amtsbetriebes bei der Zustellung von Schriftsätzen allgemein als gegenstandslos angesehen. Auch die Stellung der Geschäftsstelle im Rechtsmittelverfahren hat sich gegenüber dem Rechtszustand, von dem das Reichsgericht auszugehen hatte, grundlegend gewandelt.

3. Die prozessualen Fristen enden mit dem Ablauf ihres letzten Tages, das heißt um 24 Uhr. Da die Bediensteten des Gerichts schon Stunden vorher Dienstschluß haben, kann dies nur bedeuten, daß ihre Mitwirkung bei der Einreichung fristwahrender Schriftstücke vom Gesetz nicht vorausgesetzt wird. Entscheidend ist vielmehr allein, daß das Schriftstück innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; BGB § 188; ZPO § 222 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 28.04.1978; Aktenzeichen 2 U 31/78)

 

Gründe

I.

1. Die Beschwerdeführer schlossen im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht Lahn-Gießen mit den von ihnen wegen einer Schadensersatzforderung in Anspruch genommenen Beklagten einen Vergleich. Die Parteien behielten sich vor, den Vergleich bis zum 7. Februar 1977 „durch schriftliche Anzeige zu den Gerichtsakten” zu widerrufen.

Mit Schriftsatz vom 4. Februar 1977 widerriefen die Beschwerdeführer den Vergleich. Der Schriftsatz wurde vom Geschäftsstellenbeamten der zuständigen Kammer des Landgerichts mit dem Eingangsstempel vom 8. Februar 1977 versehen. Auf den Hinweis des Gerichts, der Widerruf sei verspätet, beantragten die Beschwerdeführer, den Rechtsstreit fortzusetzen. Sie trugen vor: Der Widerrufsschriftsatz sei entgegen dem Eingangsstempel bereits am 7. Februar 1977 beim Landgericht eingegangen. Die gesamte Post ihrer Prozeßbevollmächtigten vom 3. und 4. Februar 1977 sei, soweit sie an die Justizbehörden in Lahn-Gießen gerichtet gewesen sei, am 4. Februar 1977 in einem einzigen Umschlag an die Postannahmestelle der Justizbehörden Lahn-Gießen abgesandt worden. Mit Ausnahme des Widerrufsschriftsatzes hätten alle Schriftsätze vom 3. und 4. Februar 1977 den Eingangsstempel vom 7. Februar 1977 erhalten.

Nach einer Beweisaufnahme stellte das Landgericht durch Urteil fest, der Rechtsstreit sei durch den Vergleich beendet worden. Zur Begründung führte es aus: Der Eingangsstempel auf dem Widerrufsschriftsatz erbringe als öffentliche Urkunde vollen Beweis für die darin bezeugte Tatsache. Den Beweis, daß der Stempelaufdruck unrichtig sei, hätten die Beschwerdeführer nicht erbracht.

Die hiergegen gerichtete Berufung wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurück. Dazu führte es aus: Es sei nicht nachgewiesen, daß der Widerruf des Vergleichs bis zum 7. Februar 1977 erfolgt sei; jedenfalls trage der Widerrufsschriftsatz den Eingangsstempel des Landgerichts vom 8. Februar 1977.

Es könne unterstellt werden, daß der Schriftsatz am 7. Februar 1977 bei den Justizbehörden in Lahn-Gießen eingetroffen sei. Das reiche aber zur Wahrung der Widerrufsfrist nicht aus. Nach dem Sinn der Widerrufsklausel müßten insoweit dieselben Grundsätze Anwendung finden, die die Rechtsprechung für die Einreichung von Schriftstücken bei Gericht zur Wahrung von Notfristen aufgestellt habe. Danach sei als Eingangstag nicht bereits der Tag anzusehen, an dem das Schriftstück in das Gerichtsgebäude gelange. Es gelte vielmehr erst in dem Zeitpunkt als eingegangen oder eingereicht, in dem der zu seiner Entgegennahme befugte Beamte es amtlich in Empfang nehme. Nur wenn ein Nachtbriefkasten eingerichtet sei, gebe die Justizbehörde zu erkennen, daß sie Schriftstücke, die vor Mitternacht in diesen Briefkasten eingeworfen würden, noch an demselben Tage als in den Gewahrsam der zuständigen Stelle gelangt ansehen wolle.

Befugt, den Widerrufsschriftsatz der Beschwerdeführer entgegenzunehmen, war nach Ansicht des Oberlandesgerichts der Geschäftsstellenbeamte der zuständigen Zivilkammer des Landgerichts. Zwar könne die Gerichtsverwaltung durch besondere Verwaltungsanordnung in der Wachtmeisterei eine gemeinsame Briefannahmestelle einrichten, die als Geschäftsstelle aller Kammern des Gerichts und der angeschlossenen Behörden gelte. Nach der dienstlichen Äußerung des Geschäftsleiters des Landgerichts Lahn-Gießen sei dort eine solche Einrichtung aber nicht geschaffen worden. Der hiernach zuständige Geschäftsstellenbeamte des Landgerichts habe als Zeuge bekundet, er habe den Widerrufsschriftsatz erst am 8. Februar 1977 erhalten.

Die Parteien hätten darauf zu achten, daß ein Schriftstück rechtzeitig in die Hände des zur Entgegennahme befugten Beamten gelange; sie müßten ihre Maßnahmen entsprechend einrichten. Der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer sei insoweit ein vermeidbares Risiko eingegangen, weil er den Widerrufsschriftsatz zusammen mit Schriftstücken, die an das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft gerichtet gewesen seien, in einem Sammelumschlag verschickt habe, der an die „Justizbehörden Lahn-Gießen, Briefannahmestelle” adressiert gewesen sei.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer, das Urteil des Oberlandesgerichts verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG): Dem Bürger dürfe nicht die Verantwortung dafür auferlegt werden, daß fristwahrende Schriftstücke, die rechtzeitig bei dem zuständigen Gericht eingetroffen seien, auch noch innerhalb der Frist in die Hände des zur Entgegennahme befugten Beamten gelangten. Der Bürger habe darauf keinen Einfluß. Es könne ihm auch nicht zugemutet werden, solche Schriftstücke stets persönlich oder durch Boten zu übermitteln, um die fristgerechte Ablieferung an den zuständigen Beamten zu gewährleisten. Die behördliche Organisation müsse vielmehr sicherstellen, daß fristwahrende Briefe bei rechtzeitigem Eingang noch am selben Tage den Eingangsstempel erhielten. Geschehe dies im Einzelfall nicht, wie es das Oberlandesgericht in bezug auf den Widerrufsschriftsatz unterstellt habe, so dürfe dadurch der Rechtsschutz des Bürgers nicht verkürzt werden.

3. Der Hessische Ministerpräsident hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Oberlandesgerichts verletzt das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebende Gebot einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung und den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Im gerichtlichen Verfahren tritt der Richter den Verfahrensbeteiligten formell und in unmittelbarer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber. Er ist daher nach Art. 1 Abs. 3 GG bei der Urteilsfindung an die insoweit maßgeblichen Grundrechte gebunden und zu einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung verpflichtet. Das gilt nicht nur für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, sondern auch für den Zivilprozeß.

Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, daß der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf (BVerfGE 41, 23 [26]; 41, 323 [326 f.]; 42, 128 [130]; 44, 302 [305]). Insbesondere ist der Bürger berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (BVerfGE 40, 42 [44]; 41, 323 [328]). Etwaige Fristversäumungen, die auf Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht beruhen, dürfen ihm nicht angelastet werden (BVerfGE 44, 302 [306]; vgl. auch BVerfGE 42, 128 [130]).

Die dargelegten Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des Senats auch für den Rechtsmittelzug im Zivilprozeß, da es sich um allgemein geltende Gebote jedes rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens handelt (BVerfGE 50, 1 [3]; Beschluß vom 24. April 1979 – 1 BvR 449/77 –). Sie müssen aber ebenso für den Zugang fristwahrender Schriftsätze innerhalb einer Instanz Anwendung finden, wenn ihnen die gleiche Wirkung wie einem Rechtsmittelschriftsatz zukommt. Das ist bei dem einen Vergleich widerrufenden Schriftstück deshalb der Fall, weil davon die Entscheidung abhängt, ob das Verfahren abgeschlossen ist oder fortgesetzt werden muß.

2. Die Tragweite dieser Grundsätze hat das Oberlandesgericht in dem angefochtenen Urteil verkannt. Seine Auffassung, ein fristgebundenes Schriftstück gelte erst in dem Zeitpunkt als bei Gericht eingegangen, in dem der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle es amtlich in Empfang nehme, ist verfassungsrechtlich nicht zu billigen.

a) Das geltende Zivilprozeßrecht enthält keine Vorschrift, die für den Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes bei Gericht dessen „Annahme” durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vorschreibt. Alle insoweit maßgebenden Bestimmungen verlangen lediglich die „Einreichung” des Schriftstücks bei Gericht (vgl. z.B. § 518 Abs. 1, § 553 Abs. 1 Satz 1, § 569 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Schon eine am Wortlaut orientierte Auslegung führt zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem so bezeichneten Vorgang um eine einseitige Prozeßhandlung des Betroffenen handelt, die der Mitwirkung eines Bediensteten des Gerichts nicht bedarf.

Das Oberlandesgericht führt als Beleg für seine Auffassung verschiedene Entscheidungen des Reichsgerichts (JW 1938, S. 2153; RG 145, 233 [236]), des Bundesgerichtshofs (BGHZ 2, 31 ff.; NJW 1957, S 750; VersR 1973, S 87) und anderer Gerichte an, die sich letztlich alle auf zwei in den Jahren 1910 und 1911 ergangene Urteile des Reichsgerichts stützen (RG, JW 1910, S 480; RGZ 76, 127). Grundlage beider Entscheidungen war § 207 Abs. 2 ZPO. Die Vorschrift betrifft den Fall, daß ein Schriftsatz, durch dessen Zustellung eine Notfrist gewahrt werden soll, im Parteibetrieb unter Vermittlung der Geschäftsstelle zugestellt wird. Das Reichsgericht entschied, daß zur „Einreichung bei der Geschäftsstelle” im Sinne dieser Bestimmung die Annahme des Schriftsatzes durch den dafür zuständigen Beamten gehöre.

Auf § 207 Abs. 2 ZPO läßt sich die Auffassung des Oberlandesgerichts heute nicht mehr stützen. Die Vorschrift wird nicht nur wegen der generellen Einführung des Amtsbetriebes bei der Zustellung von Schriftsätzen allgemein als gegenstandslos angesehen (vgl. Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 37. Aufl. 1979, Vorbem. zu § 207; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl. 1976, Anm. B zu § 207; Stein-Jonas, ZPO, 19. Aufl. 1972, Anm. III zu § 207). Auch die Stellung der Geschäftsstelle im Rechtsmittelverfahren hat sich gegenüber dem Rechtszustand, von dem das Reichsgericht bei den beiden oben erwähnten Entscheidungen aus den Jahren 1910 und 1911 auszugehen hatte, grundlegend gewandelt. Während die Rechtsmittel seinerzeit durch Zustellung eines Schriftsatzes an den Gegner eingelegt wurden (vgl. §§ 518, 179 ZPO in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Mai 1898 – RGBl. S. 410 –) und die Geschäftsstelle durch die Vermittlung der Zustellung aktiv beim Zustandekommen des Rechtsmittels mitwirkte, ist das Rechtsmittel heute bereits mit der Einreichung der Rechtsmittelschrift bei Gericht eingelegt. Die Zustellung des Schriftsatzes an den Gegner ist für seine Wirksamkeit ohne Belang. Damit ist die in § 207 Abs. 2 ZPO vorausgesetzte Beteiligung der Geschäftsstelle entfallen, aus der sich das Erfordernis der Annahme der Rechtsmittelschrift durch den zuständigen Beamten ergab.

Die Auffassung des Oberlandesgerichts steht außerdem im Widerspruch zu der nach § 222 Abs. 1 ZPO für die Fristberechnung maßgebenden Bestimmungen des § 188 BGB. Danach enden die prozessualen Fristen mit dem Ablauf ihres letzten Tages, das heißt um 24 Uhr. Da die Bediensteten des Gerichts schon Stunden vorher Dienstschluß haben, kann dies nur bedeuten, daß ihre Mitwirkung bei der Einreichung fristwahrender Schriftstücke vom Gesetz nicht vorausgesetzt wird (BVerfGE 41, 323 [327]). Entscheidend ist vielmehr allein, daß das Schriftstück innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt (ebenso BVerwGE 18, 51 [52]; BVerwG, NJW 1974, S 73; BFH, BStBl. 1976 II S. 570 [571]; vgl. auch BSG, SozR 4100, § 81 Nr. 3, S. 4).

b) Diese Auslegung der die Wahrung von Rechtsmittelfristen im Zivilprozeß regelnden Bestimmungen ist auch verfassungsrechtlich geboten. Die abweichende Rechtsansicht des Oberlandesgerichts erschwert dem Bürger in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise die Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte und ist unvereinbar mit dem Gebot einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung und dem Anspruch auf rechtliches Gehör.

Der Gesetzgeber hat in der Zivilprozeßordnung und in den dort in Bezug genommenen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs verbindlich festgelegt, wie und innerhalb welcher Zeit in einem Zivilprozeß Rechtsmittel eingelegt werden können. Daran sind die Gerichte gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Sie sind nicht befugt, die Wirksamkeit eines Rechtsmittels an weitere Voraussetzungen zu knüpfen, für die eine Rechtsgrundlage nicht besteht. Das ist jedoch in dem angefochtenen Urteil geschehen. Die Forderung des Oberlandesgerichts, daß bei der Einreichung eines fristwahrenden Schriftstücks ein dafür zuständiger Bediensteter des Gerichts mitwirken müsse, findet, wie dargelegt, im geltenden Recht keine Grundlage.

Diese Abweichung wiegt besonders schwer, weil sie die Bedingungen der Rechtsmitteleinlegung gegenüber der gesetzlichen Regelung grundlegend verändert. Die Entscheidung, ob eine Rechtsmittelfrist gewahrt ist, ergäbe sich danach nicht mehr allein aus dem Gesetz, sondern aus internen Anordnungen der Gerichtsverwaltung und aus dem Vorhandensein oder Fehlen von ihr zu schaffender Einrichtungen. Das betrifft zum einen die Frage, welcher Beamte zur Entgegennahme des Schriftstücks befugt ist. Die Antwort wäre, wie das Oberlandesgericht ausführt, den bestehenden Verwaltungsanordnungen zu entnehmen. Damit hätte es die Gerichtsverwaltung in der Hand, die Länge des Weges zu bestimmen, den ein Rechtsmittelschriftsatz innerhalb des Gerichts bis zu seinem Wirksamwerden zurückzulegen hat. Zum anderen würde auch der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen die Rechtsmitteleinlegung möglich ist, von der Gerichtsverwaltung bestimmt. Die Entgegennahme des Schriftstücks durch den zuständigen Beamten kann in aller Regel nur während der Dienstzeit stattfinden. Diese wird aber wiederum weitgehend durch Verwaltungsanordnungen festgesetzt.

Am deutlichsten wird der Einfluß, den das Oberlandesgericht den Gerichtsverwaltungen in bezug auf die Wahrung von Rechtsmittelfristen einräumt, in seinen Ausführungen zur Bedeutung von Nachtbriefkästen. Das Gericht meint, durch die Einrichtung eines solchen Briefkastens gebe die Justizbehörde zu erkennen, daß sie vor Mitternacht eingeworfene Schriftstücke noch an demselben Tag als in den Gewahrsam der zuständigen Stelle gelangt ansehen wolle. Damit verkennt es, daß das Gesetz es nicht der Gerichtsverwaltung überlassen hat, darüber zu befinden, ob sie ein fristgebundenes Schriftstück als rechtzeitig eingegangen ansehen will oder nicht. Die Frage der Fristwahrung hängt vielmehr allein von der Erfüllung der im Gesetz genannten objektiven Voraussetzungen ab.

Die Ansicht des Oberlandesgerichts führt darüber hinaus zu einer Verkürzung des grundgesetzlich verbürgten Anspruchs, innerhalb der gesetzlich bestimmten Fristen bei Gericht gehört zu werden (BVerfGE 41, 323 [328]). Sie beschränkt die Möglichkeit, einen fristwahrenden Schriftsatz bei Gericht einzureichen, grundsätzlich auf die Zeiten, in denen der zur Entgegennahme befugte Beamte dienstlich zur Verfügung steht. Da das regelmäßig nur während der Dienststunden der Fall ist, diese aber lange vor 24.OO Uhr enden, ist der Bürger gehindert, die ihm vom Gesetz eingeräumte, bis zum Ablauf des letzten Tages dauernde Frist voll auszuschöpfen.

Besteht bei einem Gericht ein Nachtbriefkasten, so hat der vom Oberlandesgericht aufgestellte Rechtssatz außerdem eine unvertretbare Ungleichbehandlung gleichliegender Sachverhalte zur Folge. Eine am letzten Tage der Frist bis 24.OO Uhr in diesen Briefkasten eingeworfene Postsendung würde danach die Frist wahren. Dagegen würde ein bereits wesentlich früherer im normalen Postlauf bei Gericht eingetroffener Schriftsatz zur Fristwahrung nicht ausreichen, wenn er nicht rechtzeitig dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zugeleitet worden ist.

Schließlich ist die vom Oberlandesgericht vertretene Auffassung auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht mit den nach der Verfassung zu stellenden Anforderungen vereinbar.

Gerade in Fristfragen muß klar erkennbar sein, was der Bürger zu tun hat, um einen Rechtsverlust zu vermeiden. Ihm sind aber regelmäßig weder die bei den verschiedenen Behörden und Gerichten oft unterschiedlich geregelten Dienstzeiten bekannt, noch kennt er im allgemeinen die internen Anordnungen der Gerichtsverwaltung über die Zuständigkeit zur Entgegennahme fristwahrender Schriftsätze. Oft hat er auch weder ausreichend Zeit noch Gelegenheit, rechtzeitig eine Klärung dieser Fragen herbeizuführen. Die Ansicht des Oberlandesgerichts zwingt ihn daher, bei der Einlegung von Rechtsmitteln Risiken einzugehen, deren Ursache allein in der Sphäre des Gerichts liegt und für die ihm daher die Verantwortung nicht zugemutet werden kann. Erst recht ist die Grenze des Zumutbaren überschritten, wenn das Oberlandesgericht verlangt, die Partei müsse durch eigene Maßnahmen sicherstellen, daß ein fristgebundenes Schriftstück rechtzeitig in die Hände des zur Entgegennahme zuständigen Beamten gelange. Damit wird die Verantwortung für die ordnungsgemäße Verteilung der Post innerhalb des Gerichts auf den Bürger abgewälzt, obwohl dieser Vorgang gänzlich außerhalb seiner Einflußsphäre liegt. Praktisch bedeutet dies, daß die Partei oder ein von ihr bestellter Bote fristwahrende Schriftstücke dem zuständigen Beamten selbst aushändigen muß, wenn sie in der Frage der Fristwahrung nicht ein unkalkulierbares Risiko eingehen will.

Die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unverschuldeter Fristversäumung können den aufgezeigten Verfassungsverstoß schon deshalb nicht ausgleichen, weil es bei der Versäumung der Frist zum Widerruf gerichtlicher Vergleiche nach Meinung des Oberlandesgerichts Frankfurt keine Möglichkeit der Wiedereinsetzung gibt. Zudem würde das Wiedereinsetzungsverfahren den Betroffenen mit zusätzlichen Pflichten und Risiken belasten, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht ersichtlich ist, wenn das fristwahrende Schriftstück rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangt ist. Auch das Gericht würde in diesem Fall ohne jede Notwendigkeit mit erheblicher Mehrarbeit belastet, weil es in einem zusätzlichen Verfahren über die Berechtigung des Wiedereinsetzungsantrages entscheiden müßte.

3. Die angefochtene Entscheidung beruht auf der mit der Verfassung nicht in Einklang stehenden Rechtsansicht. Es ist nicht auszuschließen, daß das Oberlandesgericht den Widerruf des Vergleichs als wirksam angesehen hätte, wenn es für die Frage der Fristwahrung darauf abgestellt hätte, ob der Schriftsatz der Beschwerdeführer, wie es selbst unterstellt, am 7. Februar 1977 tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Landgerichts gelangt ist. Das Urteil ist daher aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

BVerfGE, 203

NJW 1980, 580

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