Entscheidungsstichwort (Thema)

Verkehrsanschauung bei Auslegung von Gemeinschaftsrecht; zum zolltariflichen Begriff ,,Fischfilet"

 

Leitsatz (NV)

1. Bei der Auslegung von Begriffen des Gemeinschaftsrechts ist grundsätzlich nicht auf die Verkehrsanschauung abzustellen.

2. Unter den zolltariflichen Begriff ,,Fischfilet" fällt nur praktisch grätenfreie Ware. Mit Stehgräten (Epipleuralien) versehene Seelachshälften ohne Kopf, Wirbelsäule, Schwanz, Flossen und weitere Gräten sind daher keine Fischfilets im zolltariflichen Sinn.

 

Normenkette

GZT Tarifst. 03.02 A II

 

Verfahrensgang

FG Hamburg

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ließ beim Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt - HZA -) am 15. Dezember 1983 gesalzene Seelachs-Hälften mit Haut und Stehgräten (Epipleuralien), ohne Kopf, Wirbelsäule, Schwanz, Flossen und weitere Knochen oder Gräten, zur zollbegünstigten Verwendung unter zollamtlicher Überwachung abfertigen. Mit Steuerbescheid vom 16. Dezember 1983 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 3. Februar und 27. September 1984 nahm das HZA die Klägerin für 7 858,60 DM Zoll in Anspruch. Dabei wies es die Waren der Tarifst. 03.02 A II d des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zu (Filet von gesalzenen Fischen; Zollsatz 9 %). Die Klägerin ist dagegen der Auffassung, daß die Erzeugnisse keine Fischfilets darstellen und daher als Fischteile nach der Tarifst. 03.02 A I f GZT nur einem Zollsatz von 8 % unterliegen.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus: Ein Fischfilet im Sinne des GZT liege nur dann vor, wenn es soweit wie technisch möglich entgrätet sei. Diese Voraussetzungen erfülle die eingeführte Ware nicht. Die sog. Stehgräten seien nicht entfernt worden. Bei diesen handle es sich nicht um kleine Gräten, wie sie vereinzelt auch einmal in Filets vorkommen könnten, sondern um größere, bereits äußerlich zu erkennende und zu fühlende Knochenteile. Dieser Filetbegriff, der in den Erläuterungen zum Zolltarif (ErlZT) seinen Niederschlag gefunden habe, entspreche auch den Verbrauchererwartungen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16. März 1982 VII R 20/80, BFHE 135, 372).

Seine Revision begründet das HZA im wesentlichen wie folgt:

Das FG habe bei der Auslegung des streitigen Begriffs insbesondere die Verkehrsauffassung und den Sprachgebrauch der einschlägigen Agrarmarktverordnungen außer acht gelassen. Industrie und Handel unterschieden weltweit grundsätzlich folgende Qualitäten: ,,Standard"-Filets (Filets mit Stehgräten - sog. ,,pin bones" -) und (praktisch) grätenfreie Filets (Filets nach weitgehendem Entfernen der Stehgräten durch den ,,V-Schnitt"). Das Standardfilet sei im Frischfischsektor die einzige und im Tiefkühlsektor die dominierende Aufmachungsart für Filets. Diese traditionell gewachsene Unterscheidung habe sich auch in den internationalen Lebensmittel-Standards für Fischfilets im Rahmen der Arbeiten der FAO/WHO niedergeschlagen (vgl. auch die deutschen Leitsätze für Fische und daraus gewonnene Erzeugnisse, die für Fischfilets lediglich das Entgräten vorsähen, und zwar soweit wie technisch möglich, Bundesanzeiger - BAnz - Nr. 117 a vom 1. Juli 1982). Die genannte Unterscheidung sei zudem verbindlicher Bestandteil der EWG-Fischmarktorganisation (Anhang II der Verordnung [EWG] Nr. 3191/82 - VO Nr. 3191/82 - der Kommission vom 29. November 1982, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 338/13). Hilfsweise werde vorgetragen, daß die Vorentscheidung auf der Verletzung der Aufklärungspflicht beruhe, da das FG die Verkehrsanschauung nicht festgestellt habe.

Das HZA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie führt aus: Eine weltweit einheitliche Verkehrsauffassung im Sinne des Vortrags des HZA bestehe nicht. Die Marktorganisation für Fischereierzeugnisse befasse sich in den hier wesentlichen Vorschriften nur mit der Ermittlung des Einfuhrpreises für bestimmte Fischerzeugnisse. Dabei gälten in der Tat andere Kriterien als bei der Tarifierung. Das Standardfilet sei nicht die dominierende Handelsware. Bei Seelachs sei ein sichtbarer Trend zum grätenfreien Filet festzustellen.

Mit Schreiben vom 30. April 1986 teilte das HZA noch mit, daß der Ausschuß für das Schema des GZT zur Klarstellung beschlossen habe, den ersten Satz im zweiten Absatz der Erläuterungen zur Tarifst. 03.01 B II GZT wie folgt zu fassen: ,,Das etwaige Vorhandensein der Haut . . . oder der Stehgräten (Epipleuralien) ändert die Tarifierung dieser Erzeugnisse nicht."

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, daß die eingeführten Waren nicht unter den Begriff ,,Filets" der Tarifst. 03.02 A II GZT fallen.

Der GZT definiert den Begriff Fischfilet nicht. Entgegen der Auffassung des HZA kann zu seiner Auslegung die Verkehrsanschauung nicht herangezogen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des GZT die Verkehrsanschauung nur dann maßgebend, wenn sich Entsprechendes aus den Vorschriften des GZT selbst ergibt (vgl. Senatsurteil vom 2. September 1986 VII K 13/85, BFHE 147, 565, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Senats). Dies entspricht auch der Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH). Im Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 24. April 1985 VII R 24/81 (BFHE 143, 481, 482) hat der Senat die Auffassung vertreten, daß bei der Auslegung des GZT der Verkehrsanschauung keine praktische Bedeutung zukomme wegen der Schwierigkeiten, diese für das Gebiet der Gemeinschaft festzustellen und zu entscheiden, was Geltung hat, wenn unterschiedliche Verkehrsauffassungen in der Gemeinschaft bestehen. In seiner darauf antwortenden Vorabentscheidung vom 10. Juli 1986 Rs. 222/85 (EuGHE 1986, 2449, 2455) hat der EuGH diese Auffassung im Ergebnis dadurch bestätigt, daß er für seine Tarifierung die Verkehrsauffassung außer Betracht gelassen hat. Ähnliches ist dem EuGH-Urteil vom 14. Januar 1982 Rs. 64/81 (EuGHE 1982, 13, 24) zu entnehmen. Dort hat der EuGH ausgeführt, die Gemeinschaftsrechtsordnung wolle ihre Begriffe grundsätzlich nicht in Anlehnung an eine oder mehrere nationale Regelungen definieren. Folglich ist auch davon auszugehen, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung die Auslegung ihrer Begriffe grundsätzlich nicht von den jeweils geltenden Verkehrsanschauungen abhängig machen wollte.

Aus der Tarifst. 03.02 A II GZT ergibt sich nichts dafür, daß hier der Gemeinschaftsgesetzgeber ausnahmsweise die Verkehrsanschauung für maßgeblich gehalten hat. Die Bedeutung dieser Vorschrift ist also nach den normalen Auslegungsgrundsätzen festzustellen. Dabei sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die ErlZT maßgebliche Erkenntnismittel. Diesen Erläuterungen ist zu entnehmen, daß die eingeführten Waren deswegen nicht unter den Begriff des Fischfilets fallen, weil sie nicht praktisch grätenfrei sind (vgl. Senatsurteil in BFHE 135, 372). Das muß jedenfalls im für den vorliegenden Fall maßgebenden Zeitpunkt (15. Dezember 1983) gelten.

In den Erläuterungen des Jahres 1983 (ErlZT Tarifnr. 03.01 Teil II Rdnrn. 60 und 61) heißt es zur Definition des Begriffs Filet der Tarifst. 03.01 B II GZT (der Begriff Filet in Tarifst. 03.02 A II ist damit offensichtlich identisch), daß als Filets nur bestimmte Fleischstreifen des Fischs gelten, ,,sofern sie von . . . Gräten (Wirbelsäule bzw. Rückengräte, Bauchgräten, Kiemenknochen usw.) befreit sind". Die Erläuterungen fahren fort, daß an der Tarifierung als Filet nichts ändert ,,das Vorhandensein kleiner Gräten, die bei Filets mancher kleiner Fischarten (z. B. Heringe, Sprotten, Sardellen) nicht vollständig entfernt worden sind". Aus diesen Erläuterungen kann folgerichtig nur der Schluß gezogen werden, daß kein Filet im Sinne des GZT vorliegt, wenn das Erzeugnis noch die Stehgräten enthält (nach den Feststellungen des FG äußerlich zu erkennende und zu fühlende Knochenteile). Das wird durch die Literatur bestätigt, die in den - nicht veröffentlichten, aber den Beteiligten bekannten - Gründen des Senatsurteils in BFHE 135, 372 genannt ist.

Die genannten Erläuterungen sind im Jahr 1986 - nach Mitteilung des HZA auf Antrag der deutschen Zollverwaltung und offenbar im Hinblick auf das vorliegende Verfahren - dahin ergänzt worden, daß an der Tarifierung als Filet ,,das etwaige Vorhandensein . . . der Stehgräten (Epipleuralien)" nichts ändere. Diesen neuen Erläuterungen kann aber zumindest für den hier maßgebenden Zeitpunkt keine Bedeutung beigemessen werden.

Die Berücksichtigung neuer Erläuterungen bei der Auslegung des GZT zu einem vor ihrem Ergehen liegenden Zeitpunkt ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Im vorliegenden Fall kann die im Jahre 1986 in die Erläuterungen eingefügte Passage aber deswegen nicht als maßgebendes Erkenntnismittel gewertet werden, weil sie im klaren Gegensatz steht zu der früheren und auch nach Einfügung der Passage beibehaltenen Fassung der Erläuterungen. Danach steht (nur) das Vorhandensein kleiner Gräten in Filets kleiner Fische der Tarifierung als Filet nicht entgegen. Diese Erläuterung ist nur sinnvoll, wenn sie so verstanden wird, daß das Vorhandensein großer Gräten in größeren Fischen, wie das bei den eingeführten Erzeugnissen gegeben ist, jedenfalls der Einordnung in den zolltariflichen Begriff Fischfilet entgegensteht. Daraus ergibt sich, daß die 1986 in die Erläuterungen eingefügten Worte nicht als weitere Klarstellung der Begriffsbestimmung Fischfilet angesehen werden können. Sie verändern vielmehr diese Erläuterungen so wesentlich, daß diese dadurch in sich widersprüchlich geworden sind. Es ist daher fraglich, ob sie ab diesem Zeitpunkt überhaupt noch als Erkenntnismittel bei der Auslegung des GZT herangezogen werden können. Für die Vergangenheit jedenfalls kann die Einfügung aus dem Jahre 1986 nicht als Erkenntnismittel bei der Auslegung des GZT dienen.

Die Einwendungen des HZA gegen diese Auffassung sind nicht stichhaltig. Soweit sich das HZA auf die Bekanntmachung von Leitsätzen des Deutschen Lebensmittelbuches bezieht, kann es damit schon deswegen nicht gehört werden, weil es sich dabei um eine nationale Bekanntmachung handelt; nationale Regelungen aber können zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht herangezogen werden (vgl. das zitierte Urteil in EuGHE 1982, 13, 24). Aber auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die gemeinsame Marktorganisation für Fischereierzeugnisse stützen die Auffassung des HZA nicht.

Nach Art. 2 VO Nr. 3191/82 haben die Mitgliedstaaten der Kommission für jeden Markttag den Frei-Grenze-Preis nach Klassen oder nach Aufmachung der Einfuhren der in der Grundverordnung aufgeführten Erzeugnisse zu übermitteln. Diese Mitteilung hat nach Art. 2 Abs. 3 VO Nr. 3191/82 durch Fernschreiben gemäß Anhang II zu erfolgen. In diesem Anhang findet sich der Begriff ,,Filets" mit der Unterteilung u. a. ,,Verarbeitungsblöcke, mit Gräten (,,Standard")" und ,,Verarbeitungsblöcke, grätenfrei". Daraus ist jedoch lediglich zu entnehmen, daß die Kommission von der Existenz von Filets mit Gräten ausgeht. Dagegen ergibt sich aus der Regelung nichts für die Einordnung solcher Filets in den GZT. Tarifstellen sind im Anhang II der VO Nr. 3191/82 nicht genannt. Die Regelung im Anhang II ist vereinbar mit der Auffassung, daß nur die grätenfreien Verarbeitungsblöcke als Fischfilets im tariflichen Sinne anzusehen sind, während die Verarbeitungsblöcke mit Gräten unter die für Fischteile vorgesehenen Tarifstellen fallen.

Aus der Grundverordnung (EWG) Nr. 3796/81 (VO Nr. 3796/81) des Rates vom 29. Dezember 1981 (ABlEG L 379/1 vom 31. Dezember 1981) ergibt sich nichts Gegenteiliges. Zwar heißt es in Art. 19 Abs. 2 VO Nr. 3796/81, daß für die Tarifierung der unter diese Marktorganisation fallenden Erzeugnisse die Allgemeinen Tarifierungsvorschriften und die besonderen Vorschriften über die Anwendung des GZT gelten. Daraus folgt aber noch nicht, daß die Kommission den Begriff ,,Filets" in Anhang II VO Nr. 3191/82 im rein zolltariflichen Sinn verstanden wissen wollte. Dagegen spricht schon die Tatsache, daß diese Regelung lediglich zur Feststellung der Frei-Grenze-Preise diente. Es gibt keine Vorschrift in den Regelungen über die Marktorganisation für Fischereierzeugnisse, die mit der Auffassung unvereinbar ist, daß nur entgrätete Fischfilets Filets im Sinne des GZT sind, nicht aber auch die sog. Standardfilets mit Gräten. Dabei kommt es auf die Frage nicht an, ob die grätenhaltigen Standardfilets praktisch die Haupthandelsware sind. Auch wenn die entsprechende Behauptung des HZA zuträfe, spräche das nicht dagegen, daß diese Standardfilets als Fischteile der Tarifst. 03.02 A I GZT zuzuordnen sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415980

BFH/NV 1989, 333

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