Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält an der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs fest, daß die Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO auf den gleichen Tatbestand, der den Gegenstand einer rechtskräftigen Berufungsentscheidung gebildet hat, ausgeschlossen ist, wenn es sich nur um eine abweichende Beurteilung handelt.

Nimmt das Finanzamt im Verfahren über die Berufung eine Einspruchsentscheidung bzw. - im Falle der Sprungberufung - einen Steuerbescheid auf Veranlassung des Finanzgerichts zurück oder ändert es ab, so steht für den Bereich des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO eine solche Zurücknahme oder änderung einer rechtskräftigen Berufungsentscheidung gleich. Auch in solchen Fällen ist daher eine Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO auf Grund abweichender Beurteilung unzulässig.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 3

 

Tatbestand

Gräfin D, geb. W, hatte durch Schreiben vom 8. Oktober 1927 der Gräflich D'schen Hauptverwaltung in X den Auftrag erteilt, monatlich im voraus, beginnend am 1. Oktober 1927, an Dr. med. W in Y einen Betrag von 500 RM zu überweisen. In dem Auftragsschreiben ist weiter bestimmt, daß die erteilte Anordnung auf Lebenszeit von Dr. W gilt und ebenso für dessen Ehefrau G. W. geb. F., falls er vor seiner Frau sterben sollte. Dr. W. ist am 26. Mai 1949 gestorben. Seit dem Tode von Gräfin D. im Jahre 1937 zahlt ihr Erbe, Graf D., die in dem Auftragsschreiben vom 8. Oktober 1927 den Bedachten ausgesetzten Beträge weiter. Das Finanzamt hat durch Bescheid vom 7. November 1950 wegen Zuwendung eines Rentenstammrechts seitens Gräfin D. an Frau W. gegen letztere Schenkungsteuer festgesetzt. Der von der Steuerpflichtigen (Stpfl.) hiergegen eingelegte Einspruch ist als unbegründet zurückgewiesen worden. Auf die Berufung der Stpfl. hin hat das Finanzgericht dem Finanzamt Zurücknahme der Einspruchsentscheidung und des Schenkungsteuerbescheids anheimgegeben, da nach Auffassung des Finanzgerichts ein Rentenstammrecht nicht begründet war. Das Finanzamt hat, der ihm seitens des Finanzgerichts gegebenen Anregung folgend, am 24. August 1951 durch berichtigten Bescheid gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) die Schenkungsteuer auf 0 DM festgesetzt und der Stpfl. durch ergänzendes Schreiben vom 6. September 1951 erklärt, daß das Land die Kosten des Rechtsmittelverfahrens trägt. Am 16. Dezember 1952 hat das Finanzamt auf Anweisung der Oberfinanzdirektion durch einen auf § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO gestützten Berichtigungsbescheid gegen die Stpfl. erneut Schenkungsteuer wegen Zuwendung eines Rentenstammrechts seitens Gräfin D. festgesetzt. Gegen diesen Berichtigungsbescheid hat die Stpfl. Sprungberufung eingelegt. Das Finanzgericht hat den Berichtigungsbescheid wegen Verjährung des Schenkungsteueranspruchs aufgehoben und ausgesprochen, daß der Freistellungsbescheid vom 24. August 1951 wieder in Kraft trete. Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) begehrt der Vorsteher des Finanzamts Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und Wiederherstellung des Berichtigungsbescheids vom 16. Dezember 1951.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts kann keinen Erfolg haben.

Der Reichsfinanzhof hat in ständiger Rechtsprechung die Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO auf den gleichen Tatbestand, der den Gegenstand einer rechtskräftigen Rechtsmittelentscheidung gebildet hat, für ausgeschlossen erklärt, wenn es sich nur um eine abweichende Beurteilung handelt (Slg. Bd. 4 S. 308; Bd. 21 S. 85; Steuer und Wirtschaft - StuW - 1930 Nr. 454 und Nr. 1310; StuW 1932 Nr. 102). Diese Rechtsprechung ist in der Folgezeit nur dahin eingeschränkt worden, daß sie auf Einspruchsentscheidungen keine Anwendung finden kann, Einspruchsentscheidungen also unbeschränkt nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO abänderbar sind (Slg. Bd. 43 S. 34). Es braucht im vorliegenden Falle nicht entschieden zu werden, ob dieses letzte Urteil nach heutiger Rechtsauffassung noch anwendbar ist, da jedenfalls rechtskräftige Berufungsentscheidungen der Finanzgerichte nicht auf Grund abweichender rechtlicher Beurteilung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO berichtigt werden konnten und können (- zur Frage der unzulässigen Abweichung von der Rechtsauffassung rechtskräftiger Rechtsmittelentscheidungen vgl. neuerdings das Urteil des Bundesfinanzhofs II 97/55 U vom 18. Mai 1955, Slg. Bd. 61 S. 27, Bundessteuerblatt 1955 III S. 208 und die Besprechung dieses Urteils durch Fließbach in StuW 1956 Spalte 43 f. -). Vorliegendenfalls ist nun zwar eine förmliche Berufungsentscheidung nicht ergangen. Es würde aber eine formalistische Betrachtung sein und der inneren sachlichen Berechtigung entbehren, wenn man Fälle wie den vorliegenden, in denen das Finanzamt seine Einspruchsentscheidung bzw. - im Falle der Sprungberufung - seinen Steuerbescheid auf Veranlassung des Finanzgerichts zurückgenommen oder geändert hat, abweichend von den Fällen der förmlichen Berufungsentscheidungen der Finanzgerichte behandeln wollte. In den erstgenannten Fällen stellt die Rücknahme oder änderung einer Einspruchsentscheidung oder eines Steuerbescheids durch das Finanzamt ebenfalls die Erledigung eines Verfahrens über die Berufung auf Grund der rechtlichen Beurteilung durch das Finanzgericht dar, auch wenn diese nicht in einer förmlichen Entscheidung, sondern in einer formlosen Verfügung des Finanzgerichts enthalten ist, die dem Finanzamt die Anregung zur Erledigung des Berufungsfalles im Wege des § 94 AO gibt. Der Steuerpflichtige, der einer seinem Antrag entsprechenden Rücknahme oder änderung der Einspruchsentscheidung oder des Steuerbescheids nicht widersprechen, eine Berufungsentscheidung also nicht erzwingen kann, muß den gleichen Vertrauensschutz wie bei einer Berufungsentscheidung genießen, bei der er nicht mit einer Abänderung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO rechnen braucht. Es würde außerdem in Fällen der genannten Art eine Nachprüfung finanzgerichtlicher, im Zuge des Verfahrens über eine Berufung zum Ausdruck gekommener Rechtsauffassungen durch die Verwaltung und damit eine unzulässige Kontrolle der Verwaltung über die Rechtsprechung bedeuten, wenn man die Möglichkeit der Fehlerberichtigung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO wegen abweichender rechtlicher Beurteilung bejahen wollte. So hat auch das oben erwähnte Urteil Slg. Bd. 4 S. 308 die Zurücknahme eines Steuerbescheids auf Einspruch hin einer förmlichen Einspruchsentscheidung gleichgeachtet. Es war also im vorliegenden Falle nicht angängig, daß das Finanzamt seine Rücknahme der Einspruchsentscheidung und des ursprünglichen Steuerbescheids im Wege der Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO wieder aufgehoben und die Stpfl. unter Abweichung von der Rechtsauffassung des Finanzgerichts erneut wegen eines Rentenstammrechts zur Schenkungsteuer herangezogen hat. Hiernach muß die Vorentscheidung im Ergebnis aufrechterhalten und die Rb. des Vorstehers des Finanzamts als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 307 ff. AO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408495

BStBl III 1956, 216

BFHE 1957, 53

BFHE 63, 53

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