Leitsatz (amtlich)

1. Eine wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision wird nicht unzulässig, wenn inzwischen die Grundsatzfrage durch den BFH geklärt wurde.

2. Hat das FG eine Revision zugelassen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Zulassung erfolge wegen der grundsätzlichen Bedeutung eines von mehreren Streitpunkten, so kann das Urteil auch hinsichtlich der anderen Streitpunkte angegriffen werden. Auch der Beteiligte, der in der für grundsätzlich gehaltenen Frage obgesiegt hatte, aber in anderen Streitpunkten unterlegen war, kann wegen dieser anderen Streitpunkte Revision einlegen.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 1-2

 

Tatbestand

Die Revisionskläger (Steuerpflichtigen) sind Eheleute. Streitig sind hinsichtlich ihrer Einkommensteuererklärungen 1961 noch drei Punkte, nämlich die von den Steuerpflichtigen erstrebte Anerkennung eines Ehegattenarbeitsverhältnisses (1), die Anerkennung einer außergewöhnlichen Belastung (2) und die Behandlung eines Disagios (3).

Das FG, das den Steuerpflichtigen nur in einem Punkt Recht gab und im übrigen die Klage abwies, ließ die Rechtsbeschwerde gegen dieses Urteil zu. In den Gründen führte es insoweit aus: "Im Hinblick auf den wegen der Behandlung des Disagios angerufenen Großen Senat des BFH wird die Rb. gemäß § 286 Abs. 1 AO zugelassen."

Gegen dieses Urteil legten die Steuerpflichtigen und das FA Rechtsbeschwerde ein, die Steuerpflichtigen soweit es sich um die Nichtanerkennung des Arbeitsverhältnisses und der außergewöhnlichen Belastung handelt, das FA wegen der Behandlung des Disagios. Beide Rechtsmittel sind nunmehr als Revisionen zu behandeln.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Beide Revisionen sind zulässig.

I. Der Zulässigkeit der Revision des FA steht nicht entgegen, daß die vom FG als grundsätzlich angesehene Frage der Behandlung eines Disagios inzwischen vom Großen Senat des BFH (vgl. den Beschluß Gr. S. 2/64 S vom 6. Dezember 1965, BFH 84, 399, BStBl III 1966, 144) geklärt wurde. Nach allgemeiner Ansicht (BGHZ 25, 96; Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, § 546 ZPO Nr. 29; Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Neue Juristische Wochenschrift 1961 S. 1737 - NJW 1961, 1737 -; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl., § 546 Anm. 4; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 4. Auflage, § 132 Anm. 22 a. E., 27; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 132 Anm. D II 3; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl., § 132 Anm. 22 a. E.; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 FGO Anm. 9; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., § 132 Anm. 3; a. A. Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 115 Anm. 42), der sich auch der erkennende Senat anschließt, ist das Zulassungsverfahren ein selbständiges Verfahren, das mit der Zulassung endet.

II. Auch die Revision der Steuerpflichtigen ist zulässig. Der Streitwert der Revision übersteigt zwar nicht die nach § 286 Abs. 1 AO a. F. erforderliche Grenze von 1 000 DM. Die Revision ist aber vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen worden. Die Zulassung erfolgte allerdings nur wegen der Bedeutung der Frage des Disagios, hinsichtlich deren nur das FA unterlegen war.

Nach § 286 Abs. 1 AO a. F. konnte die Zulassung nicht wegen der Bedeutung eines einzelnen Streitpunktes, sondern wegen der Bedeutung der "Streitsache" ausgesprochen werden. Mag auch die Bedeutung einer von mehreren Streitfragen das Motiv für die Zulassung gewesen sein, so wird die Rechtsbeschwerde in der Streitsache insgesamt zugelassen. Auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und im Zivilprozeß erfolgt die Zulassung wegen der Bedeutung der "Rechtssache" (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, § 546 Abs. 2 ZPO, ebenso jetzt § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Für diese Bereiche ist es allgemeine Ansicht, daß auch die zugelassene Revision eine Vollrevision in dem Sinne ist, daß der Revisionskläger in seinen Anträgen und Rügen nicht beschränkt ist (BGHZ 9, 357; Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 14 S. 342, Bd. 21 S. 286; Eyermann-Fröhler, § 132 Anm. 27; Klinger, § 132 Anm. C 1d (g); Maetzel, Monatschrift für Deutsches Recht 1961 S. 453; Redeker-von Oertzen, § 132 Anm. 4 und § 137 Anm. 14, 15; Uffhausen, Die Öffentliche Verwaltung 1960 S. 205 - DÖV 1960, 205 -).

Nach Ansicht des BVerwG (DÖV 1961, 147) und des Bundesgerichtshofs (BGHZ 48, 134) ist es allerdings möglich, in einem Rechtsstreit über mehrere selbständige Ansprüche, selbst wenn diese auf demselben Rechtsverhältnis beruhen, die Zulassung auf einzelne dieser Ansprüche zu beschränken. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem für das finanzgerichtliche Verfahren zugestimmt werden könnte, falls der Rechtsstreit etwa verschiedene Steuerarten oder mehrere Veranlagungszeiträume beträfe, was hier nicht der Fall ist. Im Regelfalle ist jedoch gerade im finanzgerichtlichen Verfahren eine Beschränkung der Zulassung nicht möglich. Nach dem den Streitgegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens definierenden Beschluß des Großen Senats des BFH Gr. S. 1/66 vom 17. Juli 1967 (BFH 91, 393, BStBl II 1968, 344), der zwar unter der Herrschaft der FGO erging, aber ebenso für den Rechtszustand nach der AO a. F. gilt, ist Gegenstand der Prüfung eines Steuerbescheids dessen Rechtswidrigkeit insgesamt; dieser Steuerbescheid bildet daher die "Streitsache". Das Gericht ist lediglich durch den Antrag des Klägers (Rechtsmittelklägers) in seiner Entscheidungsbefugnis beschränkt; dagegen ist es nicht gehindert, andere als die vom Kläger (Rechtsmittelkläger) angesprochenen Sachverhalte zu prüfen. Dann ist es aber auch nicht möglich, eine Revision insoweit als unzulässig anzusehen, als sie andere Fragen aufgreift als diejenigen, die für die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung entscheidend waren.

Ebensowenig aber, wie die Revisionsmöglichkeit gegenständlich beschränkt werden kann, kann sie insoweit beschränkt werden, als nur einer der Beteiligten befugt sein soll, das Urteil anzugreifen, obschon er zwar nicht durch die Entscheidung über den Punkt, dem grundsätzliche Bedeutung beigemessen wurde, aber durch die Entscheidung über andere Punkte beschwert ist. Denn die Revision wurde wegen der "Streitsache" ("Rechtssache") zugelassen, nicht wegen des einzelnen Punktes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68958

BStBl II 1970, 383

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