Entscheidungsstichwort (Thema)

Klageergänzung - Hinweispflicht

 

Leitsatz (NV)

Unabhängig davon, ob man dem Richter für das Setzen einer Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO einen Ermessensspielraum zubilligt, gebietet es jedenfalls der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, dass er auf die für erforderlich gehaltene Klageergänzung (§ 65 Abs. 1 Satz 1 FGO) hingewiesen wird, und zwar so rechtzeitig, dass er die Mängel, wenn möglich, noch beheben oder sich jedenfalls hierzu äußern kann.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 64 Abs. 1, § 65 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, § 96 Abs. 2, § 118 Abs. 3 S. 1, § 155; ZPO § 565 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

I. Für die Kläger und Revisionskläger (Kläger), Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, erhob ihr Prozessbevollmächtigter nach im Wesentlichen erfolglosem Einspruchsverfahren Klagen gegen die Hinzuschätzungen, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -―FA―) in auf § 173 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheiden vorgenommen hatte. Zur Begründung der Klagen machte er geltend, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Kapitalvermögen seien zu hoch, und verwies wegen der Einzelheiten auf das Vorbringen in anderen, beim gleichen Senat des Finanzgerichts (FG) anhängigen Verfahren wegen Einkommensteuer 1977 bis 1984 und Vermögensteuer 1983 und 1984.

Nach Eingang der Klagen (14. Dezember 1998) wies die Geschäftsstelle des FG den Prozessbevollmächtigten auf die durch § 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eröffnete Möglichkeit der Übertragung der Sachen auf den Einzelrichter hin und forderte ihn außerdem zur Vorlage einer Prozessvollmacht auf. Diese ist daraufhin am 28. Dezember 1998 beim FG eingegangen.

Zur mündlichen Verhandlung der beiden inzwischen zu einem Verfahren verbundenen Klagesachen am 11. Juni 1999 ist der Prozessbevollmächtigte rechtzeitig und ordnungsgemäß geladen worden, aber wegen einer am Tag der mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkrankung nicht erschienen.

Das FG hat die Klagen mit der Begründung abgewiesen, diese erfüllten nicht die Mindestanforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO: Auch im Wege der Auslegung sei nicht zu erkennen, in welchem Umfang eine Abänderung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide angestrebt werde. Das Vorbringen, die Einkünfte seien zu hoch, stelle ohne nähere Darlegung der nach Meinung der Kläger zutreffenden Besteuerungsgrundlagen keine hinreichende Konkretisierung des Klagebegehrens dar. Dasselbe gelte hinsichtlich der pauschalen Verweisung auf die Parallelverfahren. Schließlich habe das Gericht gemäß § 91 Abs. 2 FGO auch ohne Anwesenheit der Kläger bzw. ihres Prozessbevollmächtigten verhandeln dürfen. Dieser habe weder einen Antrag auf Terminverlegung gestellt noch Gründe dargelegt und glaubhaft gemacht, die eine Terminaufhebung hätten rechtfertigen können.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung formellen Rechts, vor allem Verletzung rechtlichen Gehörs.

Außerdem erstreben sie unter Berufung auf § 155 FGO i.V.m. § 565 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des FG.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Es ist der Meinung, die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs wegen unterlassenen Hinweises nach § 76 Abs. 2 FGO sei unbeachtlich. Denn ein solcher Hinweis hätte rechtzeitig noch in der mündlichen Verhandlung gegeben werden können. Dies sei nur dadurch unmöglich geworden, dass der Prozessbevollmächtigte dem Termin ohne Glaubhaftmachung eines erheblichen Grundes ferngeblieben sei.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Das erstinstanzliche Urteil verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG― i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO), der u.a. darauf gerichtet ist, die Beteiligten vor Überraschungen zu schützen (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 5. Juni 1997 III B 296/95, BFH/NV 1998, 35, 36, und vom 25. August 1999 X R 74/96, BFH/NV 2000, 416, 418, m.w.N.). Hierdurch soll verhindert werden, dass ein Beteiligter mit dem Urteil von einem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt "überfahren" wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit dem auch ein Kundiger nach dem bisherigen Verlauf nicht zu rechnen brauchte (BFH-Urteil vom 21. Januar 1998 III R 31/97, BFH/NV 1998, 732).

Eine solche Überraschungsentscheidung hat das FG erlassen. Mit einem Prozessurteil mussten die Kläger nicht rechnen, nachdem sie zuvor vom FG keinerlei Hinweis darauf erhalten hatten, dass ihr Vorbringen den Anforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht genüge.

Dabei kann auf sich beruhen, ob das Setzen einer Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO in solchen Fällen geboten ist (so Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 65 Rz. 61; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 65 FGO Anm. 4; offen: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Rz. 7) oder ob die Anwendung dieser Regelung stets im richterlichen Ermessen steht (so BFH-Beschluss vom 17. Mai 2000 IV B 87/99, BFH/NV 2000, 1354, 1355; ebenso Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 65 FGO Rz. 123), weil das angefochtene Urteil in jedem Fall aus anderen Gründen verfahrensfehlerhaft ist.

Da es umstritten ist und von den Umständen des Einzelfalls abhängt, wann den Anforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genügt ist (BFH-Urteil vom 13. Juni 1996 III R 93/95, BFHE 180, 247, BStBl II 1996, 483, unter 2.; Gräber, a.a.O., § 65 Rz. 47, m.w.N.), hätte es zumindest eines richterlichen Hinweises auf einen solchen Verfahrensmangel bedurft, bevor die Kläger mit einem Prozessurteil überrascht wurden. Der Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte trotz ordnungsgemäßer Ladung der mündlichen Verhandlung ohne hinreichende Entschuldigung ferngeblieben ist, ist in diesem Zusammenhang unbeachtlich, weil den Klägern hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, ihr Klagevorbringen rechtzeitig schriftlich zu ergänzen (§§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FA übersieht in diesem Zusammenhang, dass es nicht nur um die Stellung des richtigen Klageantrags geht, für die in der Tat noch in der mündlichen Verhandlung in ausreichender Weise hätte gesorgt werden können, sondern um die ausreichende Bestimmung des Klagebegehrens (zur Unterscheidung: Gräber, a.a.O., § 96 Rz. 3), und dass zur Gewährleistung rechtlichen Gehörs dem Gericht insoweit aufgegeben ist, unter Ausnutzung der hierfür eröffneten gesetzlichen Möglichkeiten, für formgerechte und rechtzeitige Ergänzung zu sorgen. Dies ist hier nicht geschehen. Daher kommt es auch auf eventuelle Obliegenheitsverletzungen, die den Klägern anzulasten wären (s. dazu die BFH-Beschlüsse vom 29. Oktober 1999 III B 32/99, BFH/NV 2000, 580, und vom 5. Mai 2000 VIII B 122/99, BFH/NV 2000, 1233), nicht an.

2. Der Verfahrensfehler allein machte die Zurückverweisung der Sache erforderlich (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO), zumal das FG noch keine tatsächlichen Feststellungen, die eine Sachprüfung erlaubt hätten, getroffen hat (s. dazu Gräber, a.a.O., § 119 Rz. 11 und § 126 Rz. 13).

3. Der Antrag der Kläger auf Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des FG ist unbegründet. Ernstliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit des bisher zuständigen Senats, die allein eine solche Entscheidung gemäß § 155 FGO i.V.m. § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO rechtfertigen könnten (Gräber, a.a.O., § 126 Rz. 13), sind nicht ersichtlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein ist grundsätzlich nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen (Gräber, a.a.O., § 51 Rz. 39 a ff.).

4. Dem FG wird die Entscheidung über die Kosten des gesamten Verfahrens übertragen (§ 143 Abs. 1 und Abs. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 547060

BFH/NV 2001, 627

HFR 2001, 591

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