Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Versäumt der Berufungsführer die Berufungsfrist wegen einer akuten Erkrankung ist Nachsicht zu gewähren.

2. Während eines anhängigen Rechtsmittelverfahrens kann kein Berichtigungsbescheid gem. § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO erlassen werden (hier: berichtigter Erbschaftsteuerbescheid wegen neuer Tatsachen).

 

Orientierungssatz

Nachsicht wegen Erkrankung; Berichtigung gem. § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO während eines Rechtsmittelverfahrens

 

Normenkette

AO §§ 86-87, 94, 222 Abs. 1 Nr. 1, § 296 Abs. 3; ErbStG 1951 §§ 13, 18 Abs. 1 Nr. 14; ErbStG 1959 § 18 Abs. 1 Nr. 15

 

Tatbestand

Der Bf. und seine beiden Geschwister, nämlich sein Bruder und seine Schwester, sind Testamentserben ihrer am 2. November 1955 verstorbenen Tante (Schwester ihres Vaters). Der Bf. hat in der von ihm für die Erbengemeinschaft eingereichten ErbSt-Erklärung angegeben, daß er und seine Geschwister von der Erblasserin noch zu deren Lebzeiten, nämlich am 17. Oktober 1955, eine unentgeltliche Zuwendung von 25.000,– DM erhalten hätten; diese Zuwendung sei für den Bf. und seine Schwester zur Beendigung des Studiums und weiteren Ausbildung, für seinen Bruder (der 100 v. H. kriegsbeschädigt sei) zur Förderung des Wohnungsbaus und zum Zweck des angemessenen Unterhalts bestimmt. In einem Schreiben an das FA vom 16. März 1956 hat der Bf. erklärt, von der Zuwendung entfielen auf ihn und seine Schwester je die Hälfte unter der Voraussetzung, daß sie nach Abschluß ihrer Ausbildung für ihren Bruder eine Wohnung kauften und, wenn nötig, immer für ihn sorgten, damit er als Schwerstkriegsbeschädigter nicht vegetieren müsse. Das FA hat dem Bf. am 20. April 1956 einen (endgültigen)Erbschaftsteuer-(ErbSt)-Bescheid erteilt. In diesem Steuer-(St)-Bescheid hat das FA die Zuwendung dem Erbschaftserwerb des Bf. und seiner Schwester zu je ½ gemäß § 13 ErbStG hinzugerechnet, weil der Nachweis über die zu einer Ermäßigung der ErbSt führende Zweckgebundenheit der Zuwendung nicht habe erbracht werden können. Gegen diesen endgültigen ErbSt-Bescheid hat der Bf. Einspruch eingelegt und für die zweckgebunde Schenkung vom 17. Oktober 1955 Steuerfreiheit gemäß § 12 (richtig: 18) Abs. 1 Nr. 14 ErbStG beantragt. Außerdem hat er für das nachlaßzugehörige Grundstück Steuerfreiheit gemäß § 131 AO zur Verhinderung von Unbilligkeiten begehrt. Es handle sich bei dem Grundstück um eine mit Notdach versehene Ruine, für deren Erhaltung außergewöhnliche Aufwendungen erforderlich seien. Auf Grund von Ermittlungen hat das FA dem Bf. am 16. Juli 1957 einen berichtigten ErbSt-Bescheid gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO erteilt, in dem es den Reinnachlaßwert um 71.087,65 DM für Bankguthaben, Wertpapiere und Bargeld höher festgestellt hat; bei dem Bargeld handelt es sich um den Betrag der unentgeltlichen Zuwendung. Zu dem Einspruch des Bf. gegen den St-Bescheid vom 20. April 1956 hat das FA in dem berichtigten Bescheid ausgeführt, es möge vielleicht sein, daß die Schenkung des Betrages von 25.000 DM seitens der Tante des Bf. (Erblasserin) beabsichtigt gewesen sei, jedenfalls sei sie aber zu deren Lebzeiten nicht mehr zur Ausführung gekommen. Von einer förmlichen Entscheidung über das Rechtsmittel sei abgesehen worden; dem Bf. stehe gegen den berichtigten Bescheid erneut das Rechtsmittel des Einspruchs zu. Der Bf. hat daraufhin um Aussetzung der Vollziehung des berichtigten Bescheids vom 16. Juli 1957 bis zur Entscheidung „über das Rechtsmittel” gebeten. Das FA hat durch Einspruchsentscheidung vom 29. August 1958 über den Einspruch des Bf. gegen den (ursprünglichen) St-Bescheid vom 20. April 1956 entschieden. Es hat ihn als unbegründet zurückgewiesen und gleichzeitig den im Laufe des Rechtsmittelverfahrens erteilten berichtigten St-Bescheid vom 16. Januar 1957 insoweit geändert, als es den Barbetrag von 25.000 DM nicht mehr als nachlaßzugehörig angesehen hat. Die Steuer des berichtigten Bescheids ist dementsprechend herabgesetzt worden. Die Einspruchsentscheidung ist dem Bf. laut Postzustellungsurkunde am 1. September 1958 zugegangen. Der Bf. hat mit dem beim FA am 2. Oktober 1958 eingegangenen Schreiben vom 25. September 1958 Berufung eingelegt. Die OFD als Vertreter des FA hat in ihrer Stellungnahme zur Berufung beantragt, diese als unzulässig zu verwerfen; die Berufung sei erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangen. Der Bf. hat dann mit Schreiben vom 8. Mai 1959, das am 12. Mai 1959 beim FG eingegangen ist, gemäß § 86 AO Nachsicht wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Das FG hat die Berufung durch Urteil vom 13. Mai 1959 als unzulässig verworfen. Hiergegen hat der Bf. Rechtsbeschwerde (Rb) erhoben und Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die angefochtene Entscheidung führt aus, dem Bf. könne keine Nachsicht wegen Versäumung der Berufungsfrist gewährt werden, weil er einen entsprechenden Antrag nicht gestellt habe. Dies bedeutet einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten, weil der Bf. einen solchen Antrag tatsächlich im Schlußabsatz seines beim FG eingereichten Schriftsatzes vom 8. Mai 1959 gestellt hat. Da dieser Schriftsatz vor dem vom FG auf den 13. Mai 1959 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung beim FG eingegangen ist (Tag des Eingangs: 12. Mai 1959) und der genannte Schriftsatz laut Sitzungsprotokoll vom 13. Mai 1959 im Termin zur mündlichen Verhandlung verlesen worden ist, war er Bestandteil der Akten.

Darüber hinaus liegt auch ungenügende Sachaufklärung und damit die Möglichkeit eines Rechtsverstoßes vor. Das FG durfte sich nicht darauf beschränken, aus dem Umstand, daß frühere Schreiben des Bf. an das FA erst unverhältnismäßig lange Zeit nach ihrer Datierung beim FA eingegangen sind, darauf zu schließen, der Bf. habe die Berufungsschrift nicht unverzüglich der Post übergeben. Vielmehr hätte es untersuchen müssen, wie im konkreten Fall die große Zeitspanne zwischen Datum der Berufungsschrift und ihrem Eingang beim FA zu erklären ist. Es hätte insbesondere geprüft werden müssen, ob die Berufungsschrift nicht doch schon am (Abend des) 1. Oktober 1958 beim FA eingegangen war, und weiter, ob die Schuld am verspäteten Eingang nicht auf Mängel in der Postbeförderung zurückzuführen sein konnte.

Wegen des genannten Aktenverstoßes und möglichen Rechtsirrtums ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Der erkennende Senat kann nunmehr gemäß §§ 87 Abs. 1, 296 Abs. 3 AO selbst über die Frage der Nachsichtgewährung entscheiden. Der Bf. hat seinen Antrag auf Nachsichtgewährung glaubhaft damit begründet, daß er wegen einer fiebrigen Erkältung nicht in der Lage gewesen sei, das Berufungsschreiben früher als geschehen zur Post zu geben. Entgegen der Auffassung des FG ist es daher angezeigt, dem Bf. Nachsicht wegen der Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren; die Voraussetzung des § 87 Abs. 4 AO ist gegeben. Die vom FA erwähnte Nichteinhaltung der Frist des § 87 Abs. 2 Satz 1 AO, die übrigens ebenfalls der Nachsicht zugänglich wäre (Urteil des RFH II A 4/22 vom 21. Februar 1922, StuW 1922 Nr. 375, Mrozek-Kartei § 69 Abs. 2 und 3 AO fr. F., R. 3), ist mithin bedeutungslos.

Das FA hat durch seine Einspruchsentscheidung über den Einspruch des Bf. gegen den (ursprünglichen) Steuerbescheid vom 20. April 1956 entschieden (vgl. die Entscheidungsformel). Es muß aber den Einspruch auch als gegen den gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigten Bescheid vom 16. Juli 1957 gerichtet angesehen haben, weil es andernfalls die Steuerfestsetzung des berichtigten Bescheids nicht, wie es das getan hat, im Wege der Einspruchsentscheidung hätte ändern können. Im übrigen durfte während eines anhängigen Rechtsmittelverfahrens der angefochtene Bescheid vom 20. April 1956 nicht gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt werden. Zurücknahme oder Änderung eines Bescheids im Laufe eines Rechtsmittelverfahrens ist nur gemäß § 94 Abs. 2 AO (und nur unter den dort bezeichneten Voraussetzungen) zulässig. Im Unterschied zu § 94 Abs. 2 AO eröffnet § 222 Abs. 1 AO keine Möglichkeit zur Berichtigung im Falle eines anhängigen Rechtsmittelverfahrens. Es bedarf einer solchen Möglichkeit auch gar nicht, weil eine abweichende Steuerfestsetzung zuungunsten des Stpfl. nach § 243 Abs. 3 AO im Rechtsmittelverfahren ergehen kann. Das FA durfte demnach mit Rücksicht auf den gegen den (ursprünglichen) Steuerbescheid vom 20. April 1956 eingelegten Einspruch einen gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigten Bescheid überhaupt nicht erlassen, sondern mußte die von ihm beabsichtigte abweichende Steuerfestsetzung in der Einspruchsentscheidung vornehmen (gleicher Ansicht Urteil des BFH IV 261/60 U vom 22. September 1960, BStBl 1960 III S. 499, Slg. Bd. 71 S. 671 – 675/6 –; Berger, Der Steuerprozeß, 1954, S. 246). Nach dem vom FA aber nun einmal eingeschlagenen Verfahren ist der (ursprüngliche) Bescheid vom 20. April 1956 in dem gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO erlassenen Berichtigungsbescheid vom 16. Juli 1957 aufgegangen und es muß in dem durch die Einspruchsentscheidung ausgelösten Berufungsverfahren über die Einwendungen gegen den ursprünglichen Bescheid entschieden werden. Die Sache geht an das FG zurück. Es wird zweckmäßigerweise zu prüfen haben, ob der Bf. im Rechtsmittelverfahren ebenfalls wie im Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren als Bevollmächtigter seiner Geschwister auftritt, d.h. ob er auch in deren Namen Einspruch eingelegt hat. Hierzu wird auf das Urteil des erkennenden Senats II 286/58 vom 1. März 1961 (HFR 1961 Nr. 228) hingewiesen …

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1201286

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