Entscheidungsstichwort (Thema)

Berechnung der Haftungsschuld mit Bruttosteuersatz auch bei Ausschluß der Regreßmöglichkeit bei den Arbeitnehmern

 

Leitsatz (amtlich)

Haftet der Arbeitgeber in einer Vielzahl von Fällen, in denen er keine Aufzeichnungen gemacht hat, gemäß § 42d EStG für die von den Arbeitnehmern geschuldete Lohnsteuer, so ist die Höhe der Haftungsschuld selbst dann mit dem (niedrigeren) Bruttosteuersatz und nicht mit dem (höheren) Nettosteuersatz zu berechnen, wenn feststeht, daß der Arbeitgeber nach der Zahlung wegen des Fehlens von Aufzeichnungen bei seinen Arbeitnehmern keinen Regreß wird nehmen können (Änderung der Rechtsprechung in dem Urteil vom 7.Dezember 1984 VI R 164/79, BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164).

 

Orientierungssatz

Parallelentscheidung: BFH, 29.10.1993, VI R 27/92, NV.

 

Normenkette

EStG §§ 8, 11 Abs. 1, § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 38 Abs. 2, § 38a Abs. 1 S. 3, § 42d; AO 1977 §§ 38, 44, 47; BGB § 426

 

Tatbestand

Die Klägerin, Revisionsbeklagte und Anschlußrevisionsklägerin (Klägerin) stellt Fertiggerichte her. Anläßlich einer Lohnsteuer-Außenprüfung wurde festgestellt, daß die Arbeitnehmer der Klägerin in der betrieblichen Kantine zum Preis von 1 DM ein Mittagessen einnehmen konnten. Der Prüfer sah in dem Mittagessen einen Sachbezug, dessen Wert er mit dem für den Prüfungszeitraum (1.November 1983 bis 30.April 1986) geltenden Betrag der Sachbezugsverordnung (SachBezV) von 3,40 DM abzüglich eines Freibetrages von 1,50 DM und des gezahlten Preises von 1 DM ansetzte.

Der Beklagte, Revisionskläger und Anschlußrevisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ einen den Prüfungsfeststellungen entsprechenden Haftungsbescheid, in dem die Haftungsschuld mit einem Nettosteuersatz von 21 v.H. berechnet war.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage insoweit statt, als es auf den geschätzten Lohn nicht einen Nettosteuersatz von 21 v.H., sondern einen Bruttosteuersatz von 17,35 v.H. anwandte. Es führte aus: Die Arbeitnehmer der Klägerin hätten durch das Mittagessen einen geldwerten Vorteil erlangt, dessen Wert sich nach dem üblichen Mittelpreis des Verbrauchsorts (§ 8 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für die Streitjahre 1985 und 1986 geltenden Fassung) bemesse. Die Lohnsteuer hätte aber nicht nach einem Nettosteuersatz von 21 v.H., sondern nur nach einem Bruttosteuersatz von 17,35 v.H. nacherhoben werden dürfen. Im Gegensatz zu den Fällen der Pauschalierung nach § 40 EStG, in denen die Anwendung des Nettosteuersatzes ab 1.Januar 1983 in Abs.1 Satz 2 gesetzlich vorgeschrieben sei, bestehe bei der Inanspruchnahme des Arbeitgebers im Haftungswege eine solche Bestimmung nicht. Die Ansicht des Bundesfinanzhofs (BFH) in dem Urteil vom 7.Dezember 1984 VI R 164/79 (BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164, 169, unter 5.), wonach in der Bezahlung der Steuer die Zuwendung eines Vorteils liege, wenn der Arbeitgeber die Steuer von den Arbeitnehmern nicht zurückfordern könne, sei abzulehnen. Der Rückgriff scheitere nicht daran, daß der Arbeitgeber den Empfänger der geldwerten Vorteile nicht mehr feststellen könne, sondern daran, daß wegen der langen Verfahrensdauer im Steuerprozeß alle Fristen für die Geltendmachung eines Rückgriffsanspruchs verjährt seien.

Das FA rügt mit seiner vom FG zugelassenen Revision eine Verletzung des § 42d EStG und macht geltend, daß nach dem BFH-Urteil in BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164 der Nettosteuersatz anzuwenden sei.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, soweit der Klage stattgegeben worden ist, und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen. Sie beantragt außerdem im Wege der Anschlußrevision, die Vorentscheidung, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und den Haftungsbescheid aufzuheben.

Das FA beantragt, die Anschlußrevision als unbegründet zurückzuweisen.

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten. Es vertritt die Ansicht, die Berechnung der Haftungsschuld mit dem Nettosteuersatz sei dann rechtmäßig, wenn --wie im Streitfall-- aufgrund der tatsächlichen Umstände feststehe, daß der Arbeitgeber gar nicht in der Lage sein werde, bei seinen Arbeitnehmern Regreß zu nehmen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA und die Anschlußrevision der Klägerin sind unbegründet. Die Auffassung des FG, die Klägerin hafte zwar dem Grunde nach gemäß § 42d EStG, der Höhe nach aber nur für die unter Anwendung eines (niedrigeren) Bruttosteuersatzes geschätzte Lohnsteuer, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

I. Anschlußrevision der Klägerin

1. Die Überlassung der Kantinenessen (Fertiggerichte) hat entgegen der Auffassung der Klägerin bei ihren Arbeitnehmern zum Zufluß von Arbeitslohn i.S. des § 19 Abs.1 Satz 1 Nr.1 EStG geführt. Der Vorteil bemißt sich bei Einnahmen, die nicht in Geld bestehen, gemäß § 8 Abs.2 EStG nach dem üblichen Mittelpreis des Verbrauchsorts. Das FG hat zutreffend angenommen, daß bei der Schätzung des üblichen Mittelpreises nicht ausschlaggebend ist, daß die Klägerin die nicht verkauften Fertiggerichte am nächsten Tag nicht mehr hätte verkaufen können. Entscheidend ist vielmehr, welchen Preis die Kunden der Klägerin am jeweiligen Tag für die konkreten Fertiggerichte bezahlt hätten. Die Klägerin hat nicht geltend gemacht, daß dieser Betrag unter dem vom FA angenommenen Betrag der SachBezV in Höhe von 3,40 DM gelegen hat. Da Aufzeichnungen über die Anzahl und die Namen der Empfänger der in der Kantine abgegebenen Fertiggerichte von der Klägerin nicht vorgelegt wurden, konnte auch die Anzahl der arbeitstäglich überlassenen Fertiggerichte nicht konkret ermittelt, sondern nur geschätzt werden (§ 162 der Abgabenordnung --AO 1977--). Gegen die Höhe des vom Prüfer für den gesamten Prüfungszeitraum geschätzten Werts der überlassenen Fertiggerichte sind von der Klägerin im Revisionsverfahren keine substantiierten Einwendungen mehr erhoben worden.

2. Das FG hat zutreffend angenommen, daß die Klägerin für die auf diesen Lohn entfallende Steuer gemäß § 42d EStG haftet, weil sie insoweit keine Steuer einbehalten (§ 38 Abs.3 Satz 1 EStG) und abgeführt (§ 41a Abs.1 Nr.2 EStG) hat. Die Anschlußrevision rügt zu Unrecht, das FG habe zur Frage des Verschuldens nicht Stellung genommen. Richtig ist zwar, daß die Vorinstanz das Verschulden der Klägerin bei der unterlassenen Lohnsteueranmeldung und -abführung nicht als Tatbestandsmerkmal des § 42d EStG abgehandelt hat. Darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, daß das FG --wenn auch im Rahmen der Überprüfung der Ermessensentscheidung-- den Sachverhalt dahin gewürdigt hat, daß die Klägerin an die Versteuerung der Sachbezüge hätte denken müssen. Damit hat das FG das Unterlassen der Lohnsteueranmeldung und -abführung durch die Klägerin als fahrlässig gewertet. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat in ihrer Anschlußrevision keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die die Wertung des FG als rechtsfehlerhaft erscheinen lassen könnten.

Da im Streitfall ein Verschulden der Klägerin festgestellt worden ist, wäre ihre Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin gemäß § 42d EStG dem Grunde nach selbst dann rechtmäßig, wenn das Verschulden des Arbeitgebers nicht erst im Rahmen der Ermessensentscheidung, sondern --entsprechend der Auffassung der Klägerin unter Hinweis auf eine in der Literatur verbreitete Meinung (z.B. Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 12.Aufl., § 42d Anm.2 e, m.w.N.)-- im Wege verfassungskonformer Auslegung bereits als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 42d EStG zu berücksichtigen wäre.

II. Revision des FA

Die Entscheidung der Vorinstanz, bei der Schätzung der Lohnsteuer, für die die Klägerin dem Grunde nach gemäß § 42d EStG haftet, sei nicht der höhere Nettosteuersatz, bei dem Steuer auf die Steuer berücksichtigt ist, sondern der niedrigere Bruttosteuersatz anzuwenden, ist im Ergebnis zutreffend.

1. Die vom FA im Haftungsbescheid geltend gemachte Haftungsschuld läßt sich, soweit Lohnsteuer auf Lohnsteuer berechnet worden ist, nicht unter dem Gesichtspunkt eines vorweggenommenen Regreßverzichts rechtfertigen.

a) Zum einen vermag der Senat in der Regel allein darin, daß der Arbeitgeber es unterläßt, die nach § 41 EStG vorgeschriebenen Aufzeichnungen über Sachzuwendungen an seine Arbeitnehmer zu führen, keinen vorweggenommenen Regreßverzicht im Zeitpunkt der Zuwendung des lohnsteuerlichen Vorteils zu erkennen. Dies gilt auch dann, wenn eine Vielzahl von Arbeitnehmern betroffen ist. Ein Arbeitgeber, der sich über die steuerliche Rechtslage irrt und sich mithin gar nicht bewußt ist, einen lohnsteuerpflichtigen Vorteil zuzuwenden, wird damit im allgemeinen noch keinen Verzicht auf seinen Ausgleichsanspruch als Gesamtschuldner gemäß § 426 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) erklären wollen.

b) Zum anderen hätte der Haftungsbescheid selbst dann nur eine Lohnsteuer erfassen dürfen, die mit dem Bruttosteuersatz berechnet ist, wenn das FA die Gewißheit gehabt hätte, daß die Klägerin nach der Zahlung keinen Ausgleichsanspruch (§ 426 Abs.2 BGB) geltend machen werde. Denn der Haftungsbescheid setzt grundsätzlich voraus, daß die Steuer, für die der Haftende in Anspruch genommen wird, bereits entstanden ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., Vor § 69 AO 1977 Tz.7; § 191 AO 1977 Tz.3; Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 38 AO 1977 Anm.84). Die als Haftungsschuld geltend gemachte Lohnsteuer auf die Lohnsteuer wäre aber vor der Zahlung der mit dem Bruttosteuersatz berechneten Haftungsschuld selbst dann noch nicht entstanden, wenn bereits vorher feststünde, daß ein Ausgleichsanspruch nach der Zahlung nicht geltend gemacht werden würde. Denn dem Arbeitnehmer fließt, soweit der Arbeitgeber für ihn als den Steuerschuldner endgültig eine Steuer trägt, dadurch ein Vorteil i.S. des § 19 Abs.1 EStG erst dann zu (§ 11 Abs.1, § 38a Abs.1 Satz 3 EStG) und es entsteht folglich gemäß § 38 Abs.2 Satz 2 EStG Lohnsteuer auf Lohnsteuer auch erst dann, wenn der Arbeitgeber die einzubehaltende Steuer, für die er haftet, tatsächlich gezahlt hat. Erst die Zahlung führt zum Erlöschen der Steuerschuld des Arbeitnehmers gegenüber dem FA (§§ 44, 47 AO 1977) und bewirkt das Entstehen des Ausgleichsanspruchs des Arbeitgebers i.S. des § 426 Abs.2 BGB. Bis zum Erlöschen der Steuerschuld kann die Finanzbehörde den Arbeitnehmer als Steuerschuldner (§ 38 Abs.2 Satz 1 EStG) in Anspruch nehmen.

Mit dieser Ansicht wird auch eine Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGH) hergestellt. Denn dieser geht ebenfalls davon aus, daß der (aufschiebend bedingte) Verzicht des Arbeitgebers auf den späteren Regreß noch nicht zu einem Lohnzufluß bei den Arbeitnehmern führt. Soweit es im Haftungsfall zu nachträglichen Zuwendungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer komme, die ihrerseits Lohnsteuer auslösten, sei dies Gegenstand eines rechtlich selbständigen Verfahrens (BGH-Urteil vom 13.Mai 1992 5 StR 38/92, Der Betrieb --DB-- 1992, 1788, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1992, 2240).

c) Entgegen der Auffassung des BMF wäre die Rechtslage im Ergebnis auch dann nicht anders zu beurteilen, wenn die Klägerin schon vor der Zahlung auf den ihr gemäß § 426 Abs.1 BGB im Rahmen des Gesamtschuldverhältnisses zustehenden Freistellungsanspruch gegenüber ihren Arbeitnehmern verzichtet hätte. Ein derartiger Verzicht vor der tatsächlichen Zahlung hätte nicht den Zufluß (§ 11 Abs.1 EStG) eines Vorteils i.S. des § 19 Abs.1 Nr.1 EStG im Zeitpunkt der Verzichtserklärung bewirkt. Denn dadurch wäre die Hauptschuld des Arbeitnehmers, nämlich seine Lohnsteuerschuld (§ 38 Abs.2 Satz 1 EStG) gegenüber dem Steuergläubiger, ebensowenig erloschen wie bei einem (aufschiebend bedingten) Verzicht auf den Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs.2 BGB. Dies wäre gemäß § 47 AO 1977 vielmehr erst aufgrund der Zahlung der Fall. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte der Steuergläubiger rechtlich die Möglichkeit gehabt, von den Arbeitnehmern als den Steuerschuldnern die Zahlung zu verlangen.

Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die Zahlung sei im Streitfall deshalb unerheblich, weil dem Steuergläubiger die Inanspruchnahme der einzelnen Arbeitnehmer tatsächlich gar nicht möglich gewesen sei, da ihm deren Namen nicht bekannt gewesen seien. Bei der Entscheidung, ob und zu welchem Zeitpunkt der Verzicht auf eine Forderung zu einem Vorteil i.S. des § 19 Abs.1 Nr.1 EStG führt, ist auf die Rechtslage und nicht auf die tatsächliche Durchsetzbarkeit der rechtlich bestehenden Forderung abzustellen. Wäre nämlich die tatsächliche Durchsetzbarkeit maßgebend, könnte ebensogut der einzelne Arbeitnehmer geltend machen, der "Verzicht" des Arbeitgebers habe für ihn zu keiner Bereicherung geführt und mithin überhaupt keinen Vorteil bewirkt, weil der Arbeitgeber wegen fehlender Aufzeichnungen das Bestehen einer Forderung, auf die er habe verzichten können, gar nicht habe nachweisen können.

d) Die Berechtigung, die Haftungsschuld mit dem Nettosteuersatz zu berechnen, ergäbe sich im Streitfall danach nur dann, wenn eine Nettolohnvereinbarung getroffen worden wäre. Denn bei deren Vorliegen hat aus der Sicht des Arbeitnehmers der Arbeitgeber mit der Auszahlung des Nettolohnes den Bruttolohn "vorschriftsmäßig" gekürzt. Deshalb kann der Arbeitnehmer gemäß § 42d Abs.3 Satz 4 Nr.1 EStG nicht mehr als Gesamtschuldner in Anspruch genommen werden, es sei denn, er weiß, daß der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat (§ 42d Abs.3 Satz 4 Nr.2 EStG). Der Vorteil, endgültig nicht auf Zahlung der Lohnsteuer in Anspruch genommen werden zu können, fließt dem Arbeitnehmer damit im Zeitpunkt der Zahlung des geschuldeten Nettolohnes zu. Die einbehaltene Lohnsteuer ist bei dem Lohnsteuer-Jahresausgleich oder der Veranlagung selbst dann anzurechnen, wenn der Arbeitgeber sie nicht abführt (vgl. BFH-Urteil vom 28.Februar 1992 VI R 146/87, BFHE 167, 507, BStBl II 1992, 733, 735, zu 1.a, m.w.N.).

Wegen der weitreichenden und im allgemeinen für den Steuergläubiger nachteiligen Rechtsfolge, daß typischerweise der Arbeitnehmer als der Schuldner nicht auf Zahlung der Lohnsteuer in Anspruch genommen werden kann, sind hohe Anforderungen an den Nachweis einer Nettolohnvereinbarung zu stellen (vgl. dazu im einzelnen BFH-Urteil in BFHE 167, 507, BStBl II 1992, 733, 735, zu 1.a, m.w.N.). Nur dann, wenn vor oder bei der Auszahlung des Lohnes feststeht, daß der Arbeitgeber die Steuern und Beitragsanteile zur Sozialversicherung seines Beschäftigten übernimmt und ihm damit zusätzlich einen weiteren Vermögensvorteil zuwenden will, handelt es sich um eine Nettolohnabrede.

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist die Auffassung der Vorinstanz, es sei keine Nettolohnvereinbarung getroffen worden, nicht zu beanstanden. Der objektive Tatbestand, daß die Klägerin die Mittagessen ohne Aufzeichnung der Empfänger zugewendet hat, kann nicht als das Einvernehmen der Klägerin mit ihren Arbeitnehmern darüber gedeutet werden, daß sie die Steuern und Beitragsanteile zur Sozialversicherung übernimmt. Ein entsprechender Übernahmewille der Klägerin ist insoweit nicht feststellbar.

2. Sollte in Fällen der vorliegenden Art die Lohnsteuer, für die der Arbeitgeber haftet, mit dem Nettosteuersatz berechnet werden, so bedürfte dies --ebenso wie in § 40 Abs.1 Satz 2 EStG für die Pauschalierung der Lohnsteuer-- einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Mangels einer solchen läge ein Verstoß gegen den in § 38 AO 1977 normierten Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung vor. Danach entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört gemäß § 37 Abs.1 AO 1977 auch der Haftungsanspruch. Der Tatbestand der Haftung nach § 42d Abs.1 Nr.1 EStG ist erfüllt für Lohnsteuer, die einzubehalten und abzuführen war. Für Lohn, der dem Arbeitnehmer noch nicht ausgezahlt oder sonstwie zugeflossen ist, ist aber keine Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen.

Die vom FA und BMF vertretene Ansicht, in Fällen der vorliegenden Art sei die Haftungsschuld mit dem (höheren) Nettosteuersatz zu berechnen, würde den Steuergläubiger ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung im Falle der Haftung des Arbeitgebers besserstellen, als dies im Falle der Pauschalierung der Lohnsteuer --mit ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung zur Anwendung des Nettosteuersatzes in § 40 Abs.1 Satz 2 EStG-- der Fall ist. Denn während bei der Pauschalierung der Lohnsteuer die Anwendung des (höheren) Nettosteuersatzes mit einem Schuldneraustausch und der Schuldbefreiung des Arbeitnehmers verbunden ist, weil gemäß § 40 Abs.3 Satz 2 EStG der Arbeitgeber anstelle des Arbeitnehmers Steuerschuldner wird, möchten das FA und das BMF im Falle der Haftung dem Steuergläubiger den Vorteil des (höheren) Nettosteuersatzes gewähren und ihm außerdem den weiteren Vorteil bewahren, daß der Arbeitnehmer --neben dem Arbeitgeber als Haftungsschuldner-- Steuerschuldner bleibt.

3. Soweit der Senat in dem Urteil in BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164, 169 die Auffassung vertreten hat, daß aus dem Fehlen von Aufzeichnungen (§ 41 EStG) ein Regreßverzicht abzuleiten und bereits im Haftungsbescheid der (höhere) Nettosteuersatz anzuwenden sei (vgl. dazu auch Urteil vom 21.Februar 1992 VI R 41/88, BFHE 166, 558, BStBl II 1992, 443, 446, unter Nr.5 der Entscheidungsgründe), hält er hieran nicht mehr fest. Er hat sich dort nicht im einzelnen mit der Problematik des Zeitpunkts des Zuflusses (§ 11 Abs.1 EStG) im Falle des Regreßverzichts auseinandergesetzt (vgl. dazu bereits Beschluß vom 26.Juni 1987 VI B 33/87, BFH/NV 1988, 156, 157).

4. Es bleibt dem FA unbenommen, nach der Zahlung der Haftungsschuld durch die Klägerin zu prüfen, ob nunmehr die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen weiteren Zufluß von Lohn bei den Arbeitnehmern der Klägerin erfüllt sind, und ggf. nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob ein weiterer Haftungsbescheid erlassen werden soll.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64602

BStBl II 1994, 197

BFHE 172, 472

BB 1994, 343-345 (LT)

DB 1994, 610-612 (LT)

DStR 1994, 170 (KT)

HFR 1994, 227-228 (LT)

StE 1993, 48 (K)

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