Leitsatz (amtlich)

Ein aufgrund eines Einspruchs ergangener Änderungsbescheid kann grundsätzlich auch dann nach § 129 AO 1977 berichtigt werden, wenn das FA im Änderungsbescheid eine offenbare Unrichtigkeit des Erstbescheides übernommen hat und auszuschließen ist, daß die Übernahme der Unrichtigkeit auf fehlerhafter Anwendung materiellen Steuerrechts beruht.

 

Orientierungssatz

Die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 (zum Begriff vgl. BFH-Rechtsprechung) kann zwar ausgeschlossen sein, wenn der Veranlagungsbeamte feststehende Tatsachen nicht berücksichtigt hat. Dabei muß es sich um Unrichtigkeiten handeln, die über mechanische Versehen deshalb hinausgehen, weil sie nicht "mechanisch", also ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden können, und die deshalb letztlich auf unzureichender Sachaufklärung beruhen. Hat die Nichtberücksichtigung einer Tatsache dagegen ihren Grund in einer bloßen Unachtsamkeit und liegt sie offen zutage, so kann von einem auf mangelnder Sachaufklärung beruhenden Nichterkennen der Tatsache nicht gesprochen werden (vgl. RFH-Rechtsprechung und BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

AO 1977 § 129

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die in den Streitjahren 1976 und 1977 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Der Kläger war in diesen Jahren Oberarzt eines Krankenhauses. Der Chefarzt der Abteilung, in der der Kläger tätig war, führte einen Teil seiner Honorare aus der Behandlung von Privatpatienten einem sog. "Ärztepool" zu. Die dort angesammelten Beträge zahlte er an die in seiner Abteilung beschäftigten Ärzte aus. Der Kläger erhielt aus dem Ärztepool im Jahr 1976 einen Betrag von 24 345 DM und im Jahr 1977 einen Betrag von 22 759 DM. Diese Beträge wurden weder vom Krankenhausträger noch vom Chefarzt dem Lohnsteuerabzug unterworfen. Die Kläger wiesen diese Einnahmen in der Anlage N (Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit - Zeile 9) zur Einkommensteuererklärung 1976 und 1977 als steuerpflichtigen Arbeitslohn aus, von dem kein Steuerabzug vorgenommen worden ist. Der Bearbeiter in der Übernahmestelle des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) führte die Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der Abgabenordnung --AO 1977--) durch, ohne die Einnahmen aus dem Ärztepool zu erfassen.

Im Wege des Einspruchs begehrten die Kläger für 1976 die steuermindernde Berücksichtigung gezahlter Kirchensteuer und für 1977 den Ansatz von negativen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Der Veranlagungsbeamte der Amtsprüfstelle des FA gab dem Einspruch statt und erließ Änderungsbescheide, ohne die Einnahmen aus dem Ärztepool zu berücksichtigen. Der Vorbehalt der Nachprüfung für 1977 wurde zusammen mit dem Änderungsbescheid, der Vorbehalt der Nachprüfung für 1976 mit Bescheid vom 27.September 1979 aufgehoben.

Anläßlich der Einkommensteuerveranlagung 1978 im Juli 1980 bemerkte der Bearbeiter der Amtsprüfstelle die Nichterfassung der in den Streitjahren bezogenen Einnahmen des Klägers aus dem Ärztepool. Daraufhin ergingen auf § 129 AO 1977 gestützte Berichtigungsbescheide für 1976 und 1977, in denen diese Einnahmen der Besteuerung unterworfen wurden. Der Einspruch gegen diese Bescheide blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:

Die Berichtigungsbescheide seien rechtswidrig, weil die Nichterfassung der Einnahmen aus dem Ärztepool keine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 darstelle. Der Senat neige der Auffassung zu, daß die Nichtberücksichtigung dieser Einnahmen bei der erstmaligen Veranlagung auf ein mechanisches Versehen und nicht auf einen Rechtsirrtum des Veranlagungsbeamten zurückzuführen sei. Denn die Erklärung der Kläger in Zeile 9 der Anlage N, in den Streitjahren steuerpflichtigen Arbeitslohn in der erwähnten Höhe bezogen zu haben, von dem kein Steuerabzug vorgenommen worden sei, enthalte überwiegend eine rechtliche Würdigung der Kläger und sei angesichts des klaren Inhalts einer gegenteiligen, rechtsirrtümlichen Beurteilung durch den Bearbeiter in der Übernahmestelle kaum zugänglich gewesen. Diese Frage brauche aber nicht abschließend beantwortet zu werden, weil es in dem vorliegenden Rechtsstreit nicht um die Berichtigung der Erstbescheide, sondern um die Berichtigung der Änderungsbescheide gehe, in denen die Einnahmen wiederum nicht erfaßt worden seien. Dies sei nur mittelbar darauf zurückzuführen, daß der Bearbeiter bei der Durchführung der erstmaligen Veranlagung die Einnahmen nicht berücksichtigt habe. Unmittelbar habe die erneute Nichterfassung darauf beruht, daß der Veranlagungsbeamte bei Erteilung der Änderungsbescheide die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit unverändert und offensichtlich ohne erneute Überprüfung der eingereichten Steuererklärungen aus den Erstbescheiden übernommen habe. Aufgrund des Einspruchs gegen die Erstbescheide habe für den Veranlagungsbeamten die Verpflichtung bestanden, den Steuerfall in vollem Umfang erneut zu prüfen (§ 367 Abs.2 AO 1977). Wäre eine solche Überprüfung anhand der eingereichten Steuererklärung erfolgt, so hätte die Nichterfassung der Einnahmen schon vor Erteilung der Änderungsbescheide bemerkt und zusammen mit den von den Klägern beanstandeten Punkten korrigiert werden können und müssen. Die auf der ungeprüften Übernahme der Lohneinkünfte aus den Erstbescheiden basierende Fehlerhaftigkeit der Änderungsbescheide stelle eine falsche Rechtsanwendung dar, die eine Berichtigung wegen einer offenbaren Unrichtigkeit ausschließe (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24.November 1965 II 121/63 U, BFHE 84, 438, BStBl III 1966, 158). Erschwerend komme hinzu, daß auch der Vorbehalt der Nachprüfung für die Streitjahre aufgehoben worden sei, ohne daß die sich aufdrängende Fehlerhaftigkeit der Veranlagungen beseitigt worden wäre.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 129 AO 1977.

Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger haben sich nicht durch eine vor dem BFH vertretungsberechtigte Person geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

Nach § 129 AO 1977 können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlaß eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigt werden. Offenbare Unrichtigkeiten in diesem Sinne sind mechanische Versehen wie beispielsweise Ablese- oder Übertragungsfehler (BFH-Urteil vom 9.Oktober 1979 VIII R 226/77, BFHE 129, 5, BStBl II 1980, 62). Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen, schließen die Anwendung der Vorschrift dagegen aus (BFH-Urteile vom 8.Dezember 1967 VI R 85/67, BFHE 90, 468, BStBl II 1968, 191; vom 13.Februar 1979 VIII R 53/77, BFHE 127, 302, BStBl II 1979, 458, und vom 24.Mai 1977 IV R 44/74, BFHE 122, 393, BStBl II 1977, 853). Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO 1977 ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, ist nach den Verhältnissen des Einzelfalles zu beurteilen (BFH-Urteil vom 1.April 1977 VI R 153/76, BFHE 123, 1, BStBl II 1977, 853).

Im Streitfall waren die ursprünglichen Einkommensteuerbescheide und die Änderungsbescheide offenbar unrichtig. Denn aus der Höhe der dort angesetzten Einnahmen des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit im Vergleich zu den Angaben des Klägers in den Einkommensteuererklärungen ergab sich, daß das FA die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, von denen kein Lohnsteuerabzug vorgenommen worden war, nicht berücksichtigt hatte. Dieser Fehler war sowohl für den Kläger als auch für das FA erkennbar.

Die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit im Sinne des § 129 AO 1977 kann zwar ausgeschlossen sein, wenn der Veranlagungsbeamte feststehende Tatsachen nicht berücksichtigt. Dabei muß es sich um Unrichtigkeiten handeln, die über mechanische Versehen deshalb hinausgehen, weil sie nicht "mechanisch", also ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden können (BFH-Urteile vom 24.Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785, und in BFHE 122, 393, BStBl II 1977, 853, 854 f.), und die deshalb letztlich auf unzureichender Sachaufklärung beruhen. Hat die Nichtberücksichtigung einer Tatsache --hier der Einnahmen des Klägers, die nicht dem Lohnsteuerabzug unterlegen haben-- dagegen ihren Grund in einer bloßen Unachtsamkeit und liegt sie offen zutage, so kann von einem auf mangelnder Sachaufklärung beruhenden Nichterkennen der Tatsache nicht gesprochen werden. Vielmehr ist der Fehler des Veranlagungsbeamten, diese Einnahmen bei der Veranlagung nicht berücksichtigt zu haben, dann ein auf Flüchtigkeit beruhendes Übersehen einer Tatsache, das wie Verschreiben, Verrechnen oder Vergreifen (z.B. beim Ablesen der Steuertabelle) als offenbare Unrichtigkeit gewertet werden muß (Urteil des Reichsfinanzhofs --RFH-- vom 10.Dezember 1930 VI A 1622/30, RStBl 1931, 380; vgl. auch BFH- Urteil vom 3.August 1967 IV 111/63, BFHE 90, 6, BStBl III 1967, 766).

Ein derartiger, durch keine Rechtsüberlegungen beeinflußter Flüchtigkeitsfehler liegt im Streitfall vor. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, daß die mit den Steuererklärungen der Kläger befaßten Veranlagungsbeamten die erklärten streitigen steuerpflichtigen Einnahmen, die von den Klägern ausdrücklich als solche bezeichnet waren, von denen kein Steuerabzug vorgenommen worden sei, bewußt hätten außer Ansatz lassen wollen. Aus den Steuerakten sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, die --entgegen den Angaben der Kläger-- auf eine Steuerfreiheit der Bezüge hätten schließen lassen können. Hätten die Bediensteten des FA diese nicht unerheblichen Bezüge gleichwohl bewußt außer Ansatz lassen wollen, so hätten sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Akten kenntlich gemacht, weshalb diese Beträge ihrer Meinung nach in die Veranlagung nicht einzubeziehen seien.

Die Berichtigung der Änderungsbescheide war nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie aufgrund eines Einspruchs der Kläger ergangen sind. Der Senat teilt nicht die Ansicht des FG, daß in einem derartigen Fall ein die Änderung nach § 129 AO 1977 ausschließender Rechtsirrtum vorliege, wenn das FA die in den Erstbescheiden enthaltenen offenbaren Unrichtigkeiten nicht entdeckt und korrigiert, obwohl es die Sache auf den Einspruch hin in vollem Umfang erneut zu prüfen hat (§ 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977). Denn das FA war grundsätzlich schon bei Durchführung der ursprünglichen Veranlagung verpflichtet, alle für die Besteuerung bedeutsamen Umstände zu ermitteln (§ 88 AO 1977, § 204 Abs.1 der Reichsabgabenordnung --AO--). Eine offenbare Unrichtigkeit durch Versehen bleibt es auch dann, wenn die Flüchtigkeit mehreren Beamten unterlaufen ist, sei es bei der ursprünglichen Veranlagung oder bei der späteren Berichtigungsveranlagung. Ein die Berichtigung nach § 129 AO 1977 ausschließender Fehler der Rechtsanwendung muß grundsätzlich die Anwendung des materiellen Steuerrechts auf den erkannten Sachverhalt betreffen, d.h. es muß die Möglichkeit bestehen, daß das FA aufgrund unzutreffender rechtlicher Würdigung zu einem falschen Ergebnis gekommen ist. Das kann im Streitfall nicht angenommen werden.

Soweit der II. Senat in seinem Urteil in BFHE 84, 438, BStBl III 1966, 158, das zu § 92 Abs.3, § 222 Abs.1 Nr.1 AO ergangen ist, eine andere Rechtsauffassung vertreten hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61073

BStBl II 1985, 569

BFHE 144, 118

BFHE 1986, 118

BB 1985, 2160-2160 (ST)

DB 1985, 2231-2231 (ST)

HFR 1986, 549-550 (ST)

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