Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ist an eine Personengesellschaft ein Steuerbescheid rechtswirksam zugestellt, so kann ein Mitgesellschafter, der im Haftungsverfahren in Anspruch genommen wird, sachliche Einwendungen gegen die Steuerschuld nicht mit der Begründung geltend machen, er sei nicht in der Lage gewesen, den Steuerbescheid anzufechten.

Nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck der Vorschrift kommt es lediglich darauf an, ob der Inanspruchgenommene rechtlich in der Lage war, den Steuerbescheid anzufechten.

 

Normenkette

AO § 119

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin war Mitgesellschafterin der Firma R- OHG. Im November 1959 erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt - FA -) gegen die Klägerin einen Haftungsbescheid gemäß § 113 AO wegen Umsatzsteuer 1956 der R- OHG. Der Bescheid ging dem Zustellungsvertreter, dem Mitgesellschafter V, zu.

Streitig ist, ob die Klägerin im Rechtsmittelverfahren gegen den Haftungsbescheid mit sachlichen Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung gehört werden kann.

Das FA vertrat in der Einspruchsentscheidung die Auffassung, die Klägerin könne sich gegen die Steuerfestsetzung nicht mehr wenden, weil die Umsatzsteuerschuld 1956 der R- OHG gegenüber mit Bescheid vom 23. Januar 1959 unanfechtbar festgestellt worden sei; gemäß § 119 Abs. 2 AO seien der Klägerin sachliche Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung versagt.

Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, § 119 Abs. 2 AO komme im Streitfall nicht zur Anwendung. Die Umsatzsteuerschuld 1956 sei der R- OHG gegenüber nicht unanfechtbar festgestellt weil der Umsatzsteuerbescheid vom 23. Januar 1959 fehlerhaft zugestellt und damit eine Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden sei. Auch habe sie, die Klägerin, bis zur Zustellung des Haftungsbescheids von der Existenz eines Umsatzsteuerbescheides 1956 nichts gewußt, so daß sie nicht "in der Lage gewesen wäre", wie dies § 119 Abs. 2 AO vorsehe, gegen den Steuerbescheid Rechtsmittel einzulegen und sachliche Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung vorzutragen. Das Finanzgericht (FG) hingegen sah die Zustellung des Umsatzsteuerbescheides als rechtswirksam an und bejahte auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 119 Abs. 2 AO, da die Klägerin als Mitgesellschafterin der R- OHG die Möglichkeit gehabt habe, den Steuerbescheid anzufechten.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb., die nunmehr als Revision zu behandeln ist (§ 184 Abs. 2 FGO), ist unbegründet.

Zutreffend hat das FG ausgeführt, daß der Umsatzsteuerbescheid 1956 vom 23. Januar 1959 rechtswirksam zugestellt und daß, da Einspruch nicht eingelegt wurde, die Steuerschuld gegenüber der R- OHG unanfechtbar festgestellt worden ist. Der Umsatzsteuerbescheid 1956 war für die R- OHG als Steuerpflichtige bestimmt. Er war an sie gerichtet und ist dem Zustellungsvertreter der R- OHG, dem Mitgesellschafter V, zugegangen. Daß die R- OHG entgegen der Ansicht der Klägerin im Januar 1959, als der Steuerbescheid erging, immer noch am Wirtschaftsleben teilgenommen hat und der Mitgesellschafter V immer noch Vertreter der R- OHG war, ergibt sich aus der Tatsache, daß die R- OHG am 14. Januar 1959 ihre Umsatzsteuererklärung 1956 und am 1. August 1960 ihre Umsatzsteuererklärung 1957, die von dem Gesellschafter V allein oder mitunterzeichnet waren, hat einreichen lassen.

Das FG hat auch zu Recht angenommen, daß die Klägerin mit sachlichen Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung im Haftungsverfahren nicht mehr gehört werden kann.

Nach § 119 Abs. 2 AO a. F. - ab 1. Januar 1966 § 119 AO hat die unanfechtbare Festsetzung gegen sich gelten zu lassen, "wer als Rechtsnachfolger haftet oder wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten".

Das FG ist in seiner Entscheidung zutreffend davon ausgegangen, daß der Inanspruchgenommene nur rechtlich in der Lage gewesen sein muß, den Bescheid anzufechten, und daß es nicht darauf ankommt, ob, wie die Klägerin offensichtlich meint, der zur Anfechtung Berechtigte auch tatsächlich hierzu in der Lage gewesen war.

Zwar wird die Auffassung der Klägerin auch im Schrifttum vertreten; begründet wird diese Auffassung jedoch nicht. Die Rechtsprechung hat sich zu dieser Frage bisher nicht grundsätzlich geäußert. Der Senat ist der Auffassung, daß aus dem Wortlaut, dem Sinnzusammenhang sowie dem Sinn und Zweck der Vorschrift gefolgert werden muß, daß der Gesetzgeber lediglich auf die rechtliche Anfechtungsmöglichkeit abstellen wollte.

Mit der Wortfassung "in der Lage gewesen wäre" kommt zum Ausdruck, daß die bloße Möglichkeit der Anfechtung genügen sollte, um im Haftungsverfahren mit sachlichen Einwendungen ausgeschlossen zu sein. Dabei wird der in Frage kommende Personenkreis eindeutig abgegrenzt, wenn es heißt "wer ... als Vertreter, ..." in der Lage gewesen wäre.

Auch der Sinnzusammenhang deckt diese Wortauslegung. Der Gesetzgeber hat in § 119 Abs. 2 AO a. F. zwei Personengruppen angesprochen. Zunächst hat er für den Rechtsnachfolger, den die Haftung für die Steuerschuld des Rechtsvorgängers kraft des Nachfolgeverhältnisses trifft, die Einwendungen beschränkt. Für die Beschränkung der Einwendungen ist hier allein der Umstand maßgebend, daß der Rechtsnachfolger haftet. Der Gesetzgeber knüpft hier nur an das Vorhandensein eines objektiven Verhältnisses zwischen sekundär Verpflichteten und ursprünglich Verpflichteten an, ohne daß ein besonderes Verhalten des Inanspruchgenommenen vorliegt (vgl. Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung, Nr. 1460 der Drucksachen, Bericht des Unterausschusses über den Entwurf einer Reichsabgabenordnung - S. 42 - § 300).

Es ist kein Grund erkennbar, daß es bei der zweiten im Gesetz bezeichneten Gruppe der Vertreter usw. anders sein sollte. Ausschlaggebend ist deshalb auch hier das Vorhandensein eines objektiven Verhältnisses, ohne daß es auf das Verhalten des Inanspruchgenommenen ankommen kann.

Diese Regelung hat auch Sinn und Zweck. § 119 Abs. 2 AO a. F. will verhindern, daß bei der Haftbarmachung eines Dritten das Verfahren, das gegen den Steuerpflichtigen durchgeführt worden ist, nochmals aufgerollt und das Haftungsverfahren unnötig verzögert wird (vgl. Urteil des RFH I 345/38 vom 17. Januar 1939, RStBl 1939, 325). Der Gesetzgeber verlangt von den angeführten Personengruppen, daß sie von der ihnen eingeräumten uneingeschränkten Rechtsmittelbefugnis Gebrauch machen, wenn sie dies beabsichtigen. Im Interesse einer reibungslosen Abwicklung der Steuerfestsetzung und der Steuererhebung mutet der Gesetzgeber diesen Personen zu, selbst dafür zu sorgen, wie sie diese Rechtsmittelbefugnis sicherstellen wollen. Bei einer Mehrheit von Vertretungsberechtigten ist es deren Sache, sich erforderlichenfalls gegenseitig zu unterrichten. Die Nachprüfung der rechtlichen Möglichkeit wird - gerade hierin zeigt sich auch die Zweckmäßigkeit der Bestimmung - stets einfach sein, während nur schwer nachgeprüft werden könnte, inwieweit ein im Haftungswege Inanspruchgenommener seinerzeit tatsächlich verhindert gewesen war, von der ihm eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen.

Wendet man diese Grundsätze auf den Streitfall an, dann hat das FG zu Recht der Klägerin sachliche Einwendungen versagt. Als vertretungsberechtigte Mitgesellschafterin wäre sie rechtlich in der Lage gewesen, gegen den Steuerbescheid vorzugehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412215

BStBl III 1966, 610

BFHE 1966, 636

BFHE 86, 636

StRK, AO:119 R 10

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