Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die nach der Rechtsprechung wegen Versäumnis von Rechtsmittelfristen mögliche Gewährung von Nachsicht betrifft lediglich Büroversehen, d. h. Versehen, die bei der äußeren bürotechnischen Behandlung des Falles (Fristenkontrolle) unterlaufen sind. Ist aber der Fall büromäßig ordnungsmäßig festgehalten, überwacht und rechtzeitig dem Fachbearbeiter - sei es dem Steuerbevollmächtigten selbst oder dem von ihm betrauten Mitarbeiter (Assistenten) - zur sachlichen Bearbeitung vorgelegt, so kann ein diesen Personen unterlaufenes Versäumnis nicht durch das Vorliegen einer grundsätzlich ordnungsmäßigen Büroeinrichtung entschuldigt werden.

 

Normenkette

AO § 86; FGO § 56

 

Tatbestand

Die streitige Vermögensabgabesache befindet sich im zweiten Rechtsgange. Der Einspruch des Bf., eines Steuerberaters, wurde als unbegründet zurückgewiesen, die Einspruchsentscheidung am 14. Dezember 1956 zugestellt.

Die Berufung hatte das Finanzgericht im ersten Rechtsgange als unzulässig verworfen, weil die Berufungsschrift erst am 15. Januar 1957 eingegangen sei und weil ein vorangegangenes Schreiben vom 18. Dezember 1956 noch nicht als Berufung angesehen werden könne. Zur Frage der Nachsichtgewährung hatte das Finanzgericht dahin Stellung genommen, daß sich ein Steuerberater nicht mit der ganz allgemein gehaltenen und unsubstantiierten Behauptung entschuldigen könne, in seinem Büro würden die Fristen sorgfältig überwacht, und er habe sein Personal sorgfältig ausgesucht. Vielmehr müsse von einem Steuerberater erwartet werden, daß er in seinen eigenen Steuersachen die Rechtsmittelfristen persönlich überwache.

Der erkennende Senat hat im ersten Rechtsgange in dem Urteile III 342/57 U vom 10. Januar 1958 (BStBl 1958 III S. 119, Slg. Bd. 66 S. 310) zwar die Auffassung des Finanzgerichts gebilligt, daß die Berufung verspätet eingelegt sei, das angefochtene Urteil jedoch aufgehoben, weil es das Finanzgericht unterlassen habe, die Frage der Nachsichtgewährung in der Richtung zu prüfen, ob nicht ein entschuldbares Büroversehen bei dem Personal des Bf. vorliege. Der Senat hat dazu im einzelnen ausgeführt, er trage keine Bedenken, sich der Entscheidung des V. Senates des Bundesfinanzhofs in dem Urteile V 123/56 U vom 13. September 1956 (BStBl 1956 III S. 327, Slg. Bd. 63 S. 341) anzuschließen und gegebenenfalls Nachsicht auch in Fällen von Büroversehen bei Steuerberatern zu gewähren. Dabei könne es auch nicht als außergewöhnlich angesehen werden, daß ein Steuerberater seine eigenen Rechtsmittelsachen durch das von ihm selbst geleitete Büro bearbeiten lasse. Der Fall sei insoweit ebenso zu beurteilen, wie wenn es sich um die Bearbeitung des Rechtsmittels eines fremden Auftraggebers handele. Der Senat vermöge deshalb auch nicht die Auffassung der Vorinstanz zu billigen, nach der den Bf. bei eigenen Rechtsmitteln eine erhöhte Sorgfaltspflicht treffe und er deshalb stets persönlich die Wahrung der Rechtsmittelfristen überwachen müsse. Der Senat hat aus diesem Grunde noch eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich gehalten und die Sache an das Finanzgericht zur Prüfung zurückverwiesen, ob bei dem Bf. ein ordnungsmäßig eingerichteter Bürobetrieb vorhanden und wie es im einzelnen zu der Fristversäumung gekommen sei.

Das Finanzgericht hat im zweiten Rechtsgange der Auflage des Senates entsprochen und ist in eine Beweisaufnahme darüber eingetreten, ob bei dem Bf. ein ordnungsmäßig eingerichteter Bürobetrieb vorgelegen hat und ob er sein Personal ausreichend überwacht hat. Das Finanzgericht hat Feststellungen darüber getroffen, welche Vorgänge sich im einzelnen im Büro des Bf. bis zur Absendung der Berufungsfrist abgespielt haben. Es hat hierzu vor allem eine eingehende Vernehmung des Angestellten A. durchgeführt. Es ist auf Grund dieser Beweisaufnahme zu der überzeugung gelangt, daß der Zeuge A. als Bevollmächtigter des Bf. im Sinne des § 86 Satz 2 AO anzusehen sei, und daß daher sein Verschulden bei der verspäteten Einlegung des Rechtsmittels einem Verschulden des Bf. gleichgeachtet werden müsse, eine Nachsichtgewährung somit nicht in Betracht komme.

Der Bf. hat erneut Rb. eingelegt, in der er zunächst darauf hinweist, daß das Finanzgericht nach der Vernehmung des Zeugen A. zur Sache verhandelt und damit eine stillschweigende Nachsicht gewährt habe. Der Bf. rügt im übrigen die fehlerhafte Anwendung des geltenden Rechtes, die auf einer Verletzung der Vorschriften der §§ 164 ff. BGB in Verbindung mit §§ 102 Abs. 2, 86 Satz 2, 107 Abs. 1, 252 Satz 2 AO beruhe.

Auf Antrag des Bf. hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist unbegründet.

Zunächst kann den Ausführungen des Bf. darin nicht gefolgt werden, daß das Verhalten des Finanzgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 1959 als stillschweigende Nachsichtgewährung zu werten sei. Wann und unter welchen Umständen eine solche gegebenenfalls als vorliegend erachtet werden kann, braucht hier nicht erörtert zu werden. Denn die Tatsache, daß das Finanzgericht die Berufung im ersten Rechtsgange als unzulässig verworfen hat, daß nach dem im ersten Rechtsgange erlassenen Urteil des Senates die Frage der Nachsichtgewährung zunächst den wichtigsten Gegenstand des Rechtsstreites bildete, daß fernerhin auch das Finanzgericht allein diese Frage zum Mittelpunkt der Beweiserhebung gemacht hat und daß es in der mündlichen Verhandlung vor der Verhandlung zur Hauptsache nochmals eingehend die Frage der Nachsichtgewährung erörterte, macht es unmöglich, das prozessuale Verhalten der Vorinstanz im Sinne einer stillschweigenden Nachsichtgewährung zu deuten. Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) aber, insbesondere auch der vom Bf. erwähnte § 139 ZPO, können im Hinblick auf die abweichenden Grundsätze des bürgerlichen Prozeßverfahrens nicht ohne weiteres auf das finanzgerichtliche Verfahren übertragen werden.

Auch sonst muß der Rb. der Erfolg versagt bleiben. Es kann ungeprüft bleiben, ob das grobe Verschulden des Angestellten A. (Unterlassung der Berufungseinlegung innerhalb der Rechtsmittelfrist trotz rechtzeitiger Vorlage der Angelegenheit durch Fräulein X.) dasjenige eines Bevollmächtigten im Sinne des § 86 Satz 2 AO gewesen ist, wie das Finanzgericht meint, und ob sich der Bf. das Verschulden A.'s als das eines Bevollmächtigten verfahrensmäßig anrechnen lassen muß. Der Bf. bestreitet dies und beruft sich auf ein "Büroversehen", das er als Steuerberater mit einem ordnungsmäßig eingerichteten Büro nicht gegen sich gelten zu lassen brauche. Dieser Einwand geht fehl. Ein eine Fristversäumnis verursachendes "Büroversehen" kann lediglich im Rahmen mechanischer Bürotätigkeit vorkommen und im wesentlichen die Frage betreffen, ob der Rechtsmittelfall ordnungsmäßig in ein Fristenbuch eingetragen, die Frist bzw. eine Vorfrist in der gebotenen Weise überwacht und die Sache rechtzeitig und in der gehörigen Form zur Fachbearbeitung vorgelegt worden ist. In diesen Stadien der büromäßigen Vorbereitung der Fachbearbeitung des Rechtsmittelfalles kommt es auf die büromäßige Organisation an und können sich "Büroversehen" auswirken.

Sobald aber rechtzeitig das Stadium der Fachbearbeitung des Rechtsmittelfalles erreicht ist und andauert, können sich im allgemeinen einzelne "Büroversehen" nicht mehr auswirken bzw. auch bei ordnungsmäßiger Büroorganisation im Sinne der Rechtsprechung bezüglich der Büros von Rechtsanwälten (vgl. das Urteil des erkennenden Senates III 130/54 S vom 10. September 1954 - BStBl 1954 III S. 350, Slg. Bd. 59 S. 363 -), Steuerberatern und anderen berufsmäßigen Steuerbevollmächtigten nicht mehr entschuldigt werden. In dem Stadium der Fachbearbeitung, sobald also der Rechtsmittelfall hierfür vorgelegt und auf die Frist hingewiesen ist, trifft die volle Verantwortung für die ordnungsmäßige Erledigung der Aufgabe, insbesondere für die Wahrung der Rechtsmittelfrist, den Rechtsanwalt oder den sonstigen berufsmäßigen Steuerbevollmächtigten. Wenn in diesem Stadium die Rechtsmittelschrift nicht rechtzeitig gefertigt und unterzeichnet wird, hat der Rechtsanwalt oder sonstige berufsmäßige Steuerbevollmächtigte seinerseits die Fristversäumnis zu verantworten, gleichviel, ob es eine Rechtsmittelsache von einem Auftraggeber oder von ihm selbst ist (vgl. auch Urteil des Bundesgerichtshofs VIII z B 13/61 vom 10. Juli 1961 in Der Betrieb 1961 S. 1163). Bedient er sich hierzu einer anderen Person, die, wie A., fachlich vorgebildet und für solche Aufgaben bestimmt ist, als eines Mitarbeiters (Assistenten), und unterläuft dem Mitarbeiter (Assistenten) bei der ihm überlassenen Ausarbeitung die Fristversäumnis, wie dies für den Streitfall in der Beweisaufnahme und mündlichen Verhandlung zutage getreten ist, so trifft den Rechtsanwalt oder sonstigen berufsmäßigen Steuerbevollmächtigten auch hierfür die volle Verantwortung. Es handelt sich hierbei nicht um ein bloßes Büroversehen auf dem Gebiete der bürotechnischen Durchführung. Der Fehler ist in einem derartigen Falle bei der Fachbearbeitung unterlaufen.

Aus diesen Gründen war der anders begründeten Entscheidung des Finanzgerichts über die Versagung der Nachsichtgewährung im Ergebnis beizutreten und die Rb. als unbegründet zurückzuweisen, ohne daß auf materiell-rechtliche Fragen (einschließlich des Freibetrages für die Ehefrau) eingegangen werden konnte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410173

BStBl III 1961, 447

BFHE 1962, 499

BFHE 73, 499

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