Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßhandlungen während der Aussetzung des Klageverfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

Die während der Aussetzung des Klageverfahrens in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozeßhandlungen sind gegenüber den Prozeßbeteiligten wirkungslos; dies gilt auch für die Prozeßhandlungen und Entscheidungen des Gerichts.

 

Orientierungssatz

1. Hat das FG das Klageverfahren bis zur Entscheidung eines anderen Gerichts in einem bestimmten Rechtsstreit gemäß § 74 FGO ausgesetzt, so endet die Aussetzung des Klageverfahrens durch die Entscheidung des anderen Gerichts, ohne daß es noch eines Beschlusses über die Aufhebung der Aussetzung bedarf (vgl. BGH-Urteil vom 24.1.1989 XI ZR 75/88).

2. Ein ausgesetztes Verfahren kann nur dann von einem Beteiligten gemäß § 155 FGO i.V.m. § 250 ZPO wieder aufgenommen werden, wenn dies im Gesetz vorgesehen ist. § 250 ZPO regelt nur die Form der Aufnahme, nicht ihre Statthaftigkeit. Im Fall der nach gerichtlichem Ermessen angeordneten Aussetzung (§ 74 FGO) steht die Aufnahme des Rechtsstreits nicht zur Disposition der Beteiligten.

3. Hat das FG während des Verfahrensstillstandes das Urteil erlassen, ist das FG-Urteil nicht nichtig, sondern nur anfechtbar. Auf die diesbezügliche Revision ist das FG-Urteil ohne weitere Sachprüfung aufzuheben (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

FGO §§ 74, 155; ZPO §§ 150, 249 Abs. 2, § 250

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wendet sich gegen die im Inland vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) vorgenommene Besteuerung von Vergütungen. Diese hatte er aufgrund eines Anstellungsvertrags von der Europäischen Gesellschaft für Zusammenarbeit (EGZ), Brüssel, bezogen, für die er im Streitjahr 1975 in Afrika tätig war.

Das Finanzgericht (FG) hatte durch Beschluß vom 21.September 1984 das Klageverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Rs…. gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt, weil die Entscheidung des Rechtsstreits von der Frage abhänge, ob der Kläger als Beamter der Europäischen Kommission anzusehen sei. Wegen dieser Frage sei die Rs…. bei dem EuGH anhängig und der Kläger verfahrensmäßig daran beteiligt.

Bei einer telefonischen Rückfrage nach dem Sachstand am 3.September 1985 hatte der Berichterstatter des FG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers dahin verstanden, daß der EuGH für die Kläger des dortigen Verfahrens abschlägig entschieden und ihnen die Beamteneigenschaft nicht zuerkannt habe. Eine Stellungnahme werde hierzu noch folgen.

Mit Schriftsatz vom 5.September 1985 hatte der Klägervertreter ein klageabweisendes Urteil der zweiten Kammer des EuGH in den ähnlich liegenden verbundenen Rs…. in Form eines Abdrucks aus dem Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABlEG) überreicht.

Das FG hat diese Mitteilung als "Wiederaufnahme" des ausgesetzten Klageverfahrens angesehen und die Klage am 8.Januar 1986 (ohne vorherige Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses) abgewiesen.

Der EuGH entschied erst durch Urteil der Vierten Kammer vom 13.Juli 1989 die Rs…. zuungunsten von 182 klagenden Mitgliedern des Personals der EGZ.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts.

 

Entscheidungsgründe

II. A. Die Revision ist unabhängig von der Aussetzung des Verfahrens durch das FG zulässig.

Eine Aussetzung des Rechtsstreits hat nur die Unwirksamkeit von solchen Prozeßhandlungen zur Folge, die gegenüber den Prozeßbeteiligten vorzunehmen sind (§ 155 FGO i.V.m. § 249 Abs.2 der Zivilprozeßordnung ―ZPO―); das Rechtsmittel wird jedoch durch Einreichung eines Schriftsatzes beim Gericht eingelegt (vgl. Bundesgerichtshof ―BGH― Beschluß vom 1.Dezember 1976 IV ZB 43/76, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1977, 717, 718 m.w.N.).

B. Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

1. Die Vorentscheidung verstößt gegen § 155 FGO i.V.m. § 249 ZPO.

a) Nach der gemäß § 155 FGO im FG-Prozeß sinngemäß anzuwendenden Vorschrift des § 249 Abs.2 ZPO sind die während der Aussetzung in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozeßhandlungen gegenüber den Prozeßbeteiligten ohne Wirkung (s.o. zu A).

Dieser Grundsatz gilt ―wie sich im Gegenschluß aus § 249 Abs.3 ZPO ergibt― auch für die Prozeßhandlungen und Entscheidungen des Gerichts (vgl. BGH-Urteil vom 19.Dezember 1989 VI ZR 32/89, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ―NJW-RR― 1990, 342 m.w.N.).

b) Die vom FG am 21.September 1984 gemäß § 74 FGO beschlossene Aussetzung des Klageverfahrens endete ―erst nach Erlaß des Urteils vom 8.Januar 1986― durch die Entscheidung des EuGH vom 13.Juli 1989, ohne daß es nach Eintritt dieses im Aussetzungsbeschluß bezeichneten Ereignisses noch eines Beschlusses über die Aufhebung der Aussetzung bedurfte (vgl. BGH-Urteil vom 24.Januar 1989 XI ZR 75/88, BGHZ 106, 295, 298).

c) Eine unter bestimmten Umständen denkbare Beendigung der Aussetzung durch Aufhebung auf dem Beschlußwege vor Eintritt des im Aussetzungsbeschluß bezeichneten Ereignisses (vgl. § 155 FGO i.V.m. § 150 ZPO; BGH-Beschluß vom 7.Juli 1952 IV ZB 55/52, Lindenmaier/Möhring (LM), Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, ZPO, § 249 Nr.2 m.w.N.) hat die Vorinstanz im Streitfall nicht ausgesprochen.

Das FG hat den Aussetzungsbeschluß auch nicht konkludent mit seinem Urteil aufgehoben. Wie sich aus dem Tatbestand (Urteilsausfertigung Seite 9) ergibt, nahm es aufgrund einer telefonischen Mitteilung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers irrtümlich an, daß die Rechtssache der Kläger vom EuGH bereits abschlägig entschieden worden war, wobei hier dahinstehen kann, ob dieser Irrtum auf einem Mißverständnis beruhte. Durch die irrtümlich das Verfahren instanzmäßig beendende Entscheidung konnte der Stillstand des Verfahrens in der Instanz nicht aufgehoben werden (vgl. Wieczorek, Zivilprozeßordnung, § 249 Anm.C.II.c.3.).

d) Im übrigen ging das FG offenbar davon aus, daß das vorliegende Verfahren durch den Kläger mit Schriftsatz vom 5.September 1985 "wieder aufgenommen" worden sei.

Ein ausgesetztes Verfahren kann jedoch nur dann von einem Beteiligten gemäß § 155 FGO i.V.m. § 250 ZPO wieder aufgenommen werden, wenn dies im Gesetz vorgesehen ist (z.B. in den Fällen des § 246 Abs.2 ZPO). § 250 ZPO regelt nur die Form der Aufnahme, nicht ihre Statthaftigkeit. Im Fall der nach gerichtlichem Ermessen angeordneten Aussetzung (§ 74 FGO, vgl. entsprechend § 148 ZPO) steht die Aufnahme des Rechtsstreits nicht zur Disposition der Beteiligten.

e) Der Verstoß des FG gegen § 155 FGO i.V.m. § 249 ZPO macht das Urteil nicht nichtig, sondern nur anfechtbar. Da der Kläger die Unwirksamkeit des Urteils zwischen den Beteiligten mit der Revision rügt, ist der Fehler im Streitfall nicht geheilt.

f) Eine Heilung des sich aus dem Urteil ergebenden Verfahrensmangels durch Rügeunterlassung oder Genehmigung in der Vorinstanz liegt nicht vor.

g) Die während des Verfahrensstillstands ergangene Vorentscheidung ist auf die diesbezügliche Revision ohne weitere Sachprüfung aufzuheben (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 19.September 1985 V R 129/79, BFH/NV 1987, 515, 516 m.w.N.; vom 5.Februar 1985 VIII R 223/79, BFH/NV 1985, 88, 89 m.w.N.).

2. Danach kann dahinstehen, ob das FG zugleich gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen hat (vgl. § 119 Nr.3 FGO; BFH-Urteil vom 5.Juni 1964 IV 309/63, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 264, Rechtsspruch 7; Bundespatentgericht ―BPatG― Beschluß vom 18.April 1966 21 W (Pat) 50/66, BPatGE 8, 157). Insbesondere kann offenbleiben, ob die hierauf gerichtete Rüge rechtzeitig und vollständig erhoben worden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63148

BFH/NV 1991, 10

BStBl II 1991, 101

BFHE 162, 208

BFHE 1991, 208

BB 1991, 58 (L)

DB 1991, 897 (T)

HFR 1991, 222 (LT)

StE 1991, 20 (K)

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