Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (NV)

1. Im Übergehen selbständiger Angriffs- und Verteidigungsmittel kann ein Verstoß gegen § 119 FGO nur liegen, wenn die Entscheidung des Gerichts durch diese Angriffs- oder Verteidigungsmittel überhaupt beeinflußt werden konnte.

2. Die Aufforderung, einen - verspäteten - Einspruch zu begründen, kann nur dann stillschweigende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sein, wenn die Behörde sich über die Gewährung der Wiedereinsetzung im klaren war oder ein verständiger Antragsteller in der Aufforderung eine Entscheidung über die Wiedereinsetzung sehen konnte und durfte.

3. Eine Einspruchsfrist ist nicht deshalb unverschuldet versäumt, weil der Kläger bei Zugang des Steuerbescheids nicht steuerlich beraten war.

 

Normenkette

FGO § 119 Nr. 6; AO 1977 § 110

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) setzte durch Steuerbescheide vom 26. Februar 1981 die Einkommensteuer 1978 und 1979, die Umsatzsteuer 1978 und 1979 und die Gewerbesteuermeßbeträge 1978 und 1979 gegen die Kläger und Revisionskläger (Eheleute) - Kläger - fest. Alle Bescheide beruhten auf Schätzungen. Die Kläger hatten für die Streitjahre keine Steuererklärungen abgegeben.

Die Bescheide wurden den Klägern am 28. Februar 1981 zugestellt. Mit Schreiben ihres Prozeßbevollmächtigten vom 26. März 1982 legten die Kläger gegen die Bescheide Einspruch ein. Das FA forderte die Kläger mit Schreiben vom 6. Mai 1982 auf, die Einsprüche zu begründen. Es hatte die Fristversäumnis zunächst nicht erkannt. Darauf reichten die Kläger am 10. August 1982 Steuererklärungen für die Streitjahre ein.

Mit Einspruchsentscheidungen vom 14. Juni 1983 verwarf das FA die Einsprüche wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig.

Die Kläger erhoben Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 1978 und 1979, den Gewerbesteuermeßbescheid 1979 und den Umsatzsteuerbescheid 1978. Die Klage blieb erfolglos.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verfahrensfehler und die fehlerhafte Anwendung des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) und der Grundsätze von Treu und Glauben.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Kläger rügen, daß das angefochtene Urteil auf ihren in der mündlichen Verhandlung erörterten Schriftsatz vom 11. November 1983 nicht eingegangen sei. Selbst wenn man darin eine Rüge nach § 119 Nr. 6 FGO (Fehlen von Entscheidungsgründen) sieht, ist die Rüge unbegründet.

Zwar kann im Übergehen selbständiger Angriffs- oder Verteidigungsmittel ein Verstoß gegen § 119 FGO liegen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492).

Im Streitfall lag jedoch kein derartiger Verstoß vor. Im Schriftsatz vom 11. November 1983 haben die Kläger die Möglichkeit einer Änderung der angefochtenen Steuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 angesprochen. Erwägungen zu diesen Überlegungen der Kläger waren im Urteil nur erforderlich, wenn der Hinweis im Schriftsatz der Kläger überhaupt geeignet gewesen wäre, ihren Klageantrag zu begründen (vgl. BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 119 FGO Tz. 10; Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 119 Rdnr. 25).

Das war jedoch nicht der Fall. Die Einsprüche waren nach Überzeugung des FG unzulässig. Sie waren auch in den angefochtenen Einspruchsentscheidungen vom 14. Juni 1983 als unzulässig verworfen worden. Bei dieser Sachlage mußte das FG die Klage als unbegründet abweisen (BFH-Urteile vom 11. Oktober 1977 VII R 73/74, BFHE 124, 1, BStBl II 1978, 154; vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791). Eine Prüfung der materiellen Richtigkeit der Bescheide oder einer Änderungsmöglichkeit nach § 173 AO 1977 war dem FG verwehrt (BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791). Die von den Klägern behauptete Änderungsmöglichkeit konnte die Entscheidung des FG nicht beeinflussen. Deshalb bedurfte es keines Eingehens auf die Frage, ob die Bescheide noch geändert werden konnten. Die Rüge fehlender Begründung des angefochtenen Urteils greift somit nicht.

2. Die Revision ist auch im übrigen unbegründet. Das FG hat die Klagen zu Recht abgewiesen.

a) Zwar hätte die Klage der Klägerin gegen den Umsatzsteuerbescheid 1978 und den Gewerbesteuermeßbescheid 1979 - beide vom 26. Februar 1981 - als unzulässig verworfen werden müssen.

Die Klage war insoweit unzulässig, da der Klägerin die Klagebefugnis fehlte (§ 40 Abs. 2 FGO). Weder der angefochtene Umsatzsteuerbescheid noch der Gewerbesteuermeßbescheid richteten sich gegen die Klägerin. Beide Bescheide waren nur an den Kläger als Gewerbetreibenden adressiert. Die Klägerin war durch diese Bescheide nicht in ihren Rechten verletzt (§ 40 Abs. 2 FGO).

Dies ändert jedoch nichts an der Richtigkeit des Tenors des angefochtenen Urteils (vgl. § 126 Abs. 4 FGO; BFH-Urteil vom 12. September 1985 VIII R 371/83, BFHE 146, 99, BStBl II 1986, 537).

b) Soweit die Klagen der Klägerin und des Klägers gegen die Einkommensteuerbescheide und die Klage des Klägers gegen den Umsatzsteuerbescheid 1978 und den Gewerbesteuermeßbescheid 1979 zulässig waren, hat das FG die Steuerbescheide zu Recht bestätigt.

aa) Die gegen diese Steuerbescheide eingelegten Einsprüche waren unzulässig, da sie verspätet eingelegt wurden. Gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist ein Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakt einzulegen. Die Steuerbescheide wurden den Klägern am 28. Februar 1981 zugestellt. Da die Einsprüche erst mit Schreiben vom 26. März 1982 - eingegangen beim FA am 29. März 1982 - eingelegt wurden, war die Einspruchsfrist abgelaufen.

bb) Entgegen der Auffassung der Kläger hat das FA nicht stillschweigend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO 1977) gewährt.

Zwar kann eine trotz Fristversäumung ergangene Sachentscheidung der Verwaltung als stillschweigende Gewährung von Wiedereinsetzung gewertet werden (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 31; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 110 AO 1977 Anm. 6 e; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, § 110 Anm. 5). Voraussetzung wäre jedoch, daß sich die Behörde über die Gewährung von Wiedereinsetzung im klaren war (BFH-Urteil vom 13. März 1964 VI 11/63, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 102, Rechtsspruch 9; Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 31; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 110 AO 1977 Rdnr. 141) oder daß zumindest ein verständiger Antragsteller nach den Gesamtumständen auf eine entsprechende Entscheidung in der Wiedereinsetzungsfrage schließen kann und darf (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 110 AO 1977 Rdnr. 142; Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 31).

Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hat das FA die Fristversäumnis zunächst nicht erkannt. Ein auf Wiedereinsetzung gerichteter Wille des FA kann somit ausgeschlossen werden. Das gilt um so mehr als das FA in der Einspruchsentscheidung eine Wiedereinsetzung klar abgelehnt hat.

Auch für den verständigen Antragsteller war im Streitfall aus den Gesamtumständen nicht auf eine für ihn positive Entscheidung der Wiedereinsetzungsfrage zu schließen. Die Kläger hatten keinen ausdrücklichen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt. Sie konnten deshalb das Verhalten des FA nicht als Entscheidung über einen solchen Antrag deuten. Insbesondere war aus der Aufforderung des FA, die Einsprüche zu begründen, keine stillschweigende Gewährung von Wiedereinsetzung abzuleiten. Aus der Aufforderung zu den nach § 357 Abs. 3 AO 1977 gebotenen näheren Angaben zum Rechtsbehelf könnte allenfalls beim Zusammentreffen besonderer Umstände auf eine Wiedereinsetzung geschlossen werden. Im Normalfall handelt es sich lediglich um eine routinemäßige Anfrage des FA, die keinen Schluß auf eine Willensbildung des FA zuläßt. Das gilt um so mehr, als eine vorweggenommene Verbescheidung eines Wiedereinsetzungsantrages selten ist. Regelmäßig wird über einen Wiedereinsetzungsantrag erst mit der Entscheidung über die nachgeholte Handlung entschieden (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 110 AO 1977 Rdnr. 141).

cc) Das FA hat im Streitfall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht abgelehnt.

Nach § 110 AO 1977 ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Steuerpflichtiger ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Eines besonderen Antrags der Kläger bedurfte es im Streitfall nicht, da sie die versäumte Handlung innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses und vor Ablauf eines Jahres nach dem Ende der versäumten Frist nachgeholt haben (§ 110 Abs. 2 Satz 4 AO 1977). Die Kläger haben den Einspruch am Montag, den 29. März 1982, eingelegt. Die Jahresfrist nach Ablauf der Einspruchsfrist lief am gleichen Tag ab, da der 28. März 1982 auf einen Sonntag fiel (§ 108 Abs. 3 AO 1977).

Auch ohne Antrag müssen jedoch die Tatumstände vorgetragen werden, auf die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestützt werden kann (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob die Kläger die für eine Wiedereinsetzung sprechenden Tatumstände rechtzeitig vorgetragen haben (§ 110 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 AO 1977; BFH-Urteil vom 24. Juli 1973 IV R 204/69, BFHE 110, 232, BStBl II 1973, 823). In jedem Fall konnten die von den Klägern vorgetragenen Wiedereinsetzungsgründe keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen. Als Grund für eine Wiedereinsetzung haben die Kläger nur vorgetragen, daß ihr Berater bereits Mitte 1980 sein Mandat niedergelegt habe. Zur Zeit der Zustellung der angefochtenen Bescheide im Februar 1981 waren die Kläger somit ohne Berater. Bei dieser Situation wäre besondere Sorgfalt angebracht gewesen, als den Klägern am 28. Februar 1981 Einkommensteuerbescheide, Umsatzsteuerbescheide und Gewerbesteuermeßbescheide für jeweils zwei Jahre zugestellt wurden. Die Kläger hätten entweder einen sachkundigen Berater konsultieren oder - falls sie die Kosten nicht aufbringen konnten - zumindest die Rechtsbehelfsbelehrung der Bescheide zur Kenntnis nehmen müssen. Selbst wenn sie nicht in der Lage gewesen sein sollten, die für die Steuererklärungen 1978 und 1979 zu erstellenden Bilanzen zu fertigen, hätte auch nach dem eigenen Vortrag der Kläger durchaus die Möglichkeit bestanden, zur Fristwahrung Einspruch einzulegen. Die Kläger haben jedoch ein Jahr gewartet, bis sie durch eine Zahlungsaufforderung der Finanzkasse zum Handeln gezwungen wurden. Eine unverschuldete Fristversäumung i. S. von § 110 Abs. 1 AO 1977 lag bei dieser Verhaltensweise auch nach dem Vorbringen der Kläger nicht vor. Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob das FA die Kläger gemäß § 89 AO 1977 auf die Erfordernisse eines Wiedereinsetzungsantrags hätte hinweisen müssen. Nachdem die Kläger auch im Klageverfahren keine Gründe für eine Wiedereinsetzung vorgetragen haben, hätte ein Hinweis des FA zu keiner anderen Entscheidung geführt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415914

BFH/NV 1990, 8

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