Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Auslegung des § 174 Abs. 4 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

§ 174 Abs. 4 AO 1977 erfaßt lediglich die Fälle, in denen die Finanzbehörde aus "einem bestimmten Sachverhalt" die steuerrechtlichen Folgerungen ziehen will, sich dabei aber darüber irrt, welches Steuer objekt, welches Steuersubjekt (welchen Steuerpflichtigen; Inhaltsadressaten) und welchen Zeitraum diese Folgerungen betreffen. Der zu beurteilende "bestimmte Sachverhalt" umfaßt hingegen nicht auch die jenigen Merkmale, welche für die Geltendmachung des Steueranspruchs, namentlich die wirksame Bekanntgabe des Steuerbescheids, relevant sind. Erläßt das FA daher einen Steuerbescheid an den richtigen Steuerschuldner (Inhaltsadressaten), gibt es diesen Bescheid jedoch dem unrichtigen Bekanntgabeadressaten bekannt und hebt es deswegen den Bescheid auf, um sodann einen neuen Bescheid, der denselben materiell-rechtlichen Lebenssachverhalt erfaßt und sich an denselben Steuerschuldner richtet, an den richtigen Bekanntgabeadressaten zu erlassen, so betreffen beide Bescheide denselben "bestimmten Sachverhalt" i. S. v. § 174 Abs. 4 AO 1977.

 

Normenkette

AO 1977 § 169 Abs. 2 S. 2, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 174 Abs. 4, § 378; GrEStG (BY) § 5 Abs. 2; GrEStG (BY) § 16a S. 1

 

Tatbestand

Der Fabrikant H war Eigentümer des mit einem Wohn- und Fabrikgebäude bebauten Grundstücks X. Mit notarieller, als "Einbringungsvertrag " überschriebener Urkunde vom 1. Juli 1981 vereinbarte er mit der Firma B-GmbH und deren Geschäftsführer Dr. S die Gründung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) -- der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) --. In diesem notariellen Vertrag wurde des weiteren vereinbart, daß H das oben bezeichnete Grundstück in die GbR einbringe. Die Einbringung werde mit 1 850 000 DM bewertet. Die B-GmH und Dr. S sollten Bareinlagen von zusammen 18 500 DM leisten. Die Beteiligungsverhältnisse zur Klägerin sollten sich nach dem Verhältnis dieser Einlagen richten.

Am selben Tag (1. Juli 1981) schlossen H, Dr. S und die B-GmbH einen privatschriftlichen Gesellschaftsvertrag, wonach -- abweichend von dem notariellen Einbringungsvertrag -- H lediglich mit einem Gesellschaftsanteil von 2,5 v. H. beteiligt sein sollte und die Gesellschaftsanteile der B-GmbH 2,5 v. H. und des Dr. S 95 v. H. betragen sollten.

Ebenfalls noch am selben Tag hielten die Gründungsgesellschafter der Klägerin eine Gesellschafterversammlung ab, in der im wesentlichen beschlossen wurde, daß H das Grundstück binnen Jahresfrist vollständig räumen und gleichzeitig aus der GbR (Klägerin) ausscheiden solle. Ferner verpflichtete sich die B-GmbH in dieser Gesellschafter versammlung, bis zur Räumung des Grundstücks durch H weitere 1 831 500 DM, zusammen also 1 850 000 DM, in die Klägerin einzubringen. H sollte berechtigt sein, diesen Betrag zu entnehmen. Durch diese Einlagen und Entnahmen sollten sich die Beteiligungsverhältnisse zur Klägerin entsprechend verändern. H sollte am Gewinn und Verlust der Klägerin nicht beteiligt sein.

Mit Schreiben vom 3. November 1981 beantragte die Klägerin die Befreiung des Grundstückserwerbs durch sie von der Grunderwerbsteuer gemäß § 5 Abs. 2 des Bayerischen Grunderwerbsteuergesetzes -- GrEStG (BY) -- in Höhe des Anteils, zu dem H an der GbR beteiligt sei. Dieser Anteil betrage 99,01 v. H. (Gesamtvermögen der Klägerin: 1 868 500 DM, Beteiligung des H: 1 850 000 DM).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --), dem zu dieser Zeit lediglich der notarielle Einbringungsvertrag vom 1. Juli 1981, nicht aber der privatschriftliche Gesellschaftsvertrag und der Inhalt des Gesellschafterbeschlusses vom selben Tage bekannt waren, gab diesem Antrag statt und setzte mit bestandkräftig gewordenem Steuerbescheid vom 12. November 1981 auf der Grundlage einer Gegenleistung von 18 315 DM Grunderwerbsteuer in Höhe von 1 282 DM fest.

Am 23. Dezember 1981 beschlossen die Gründungsgesellschafter der Klägerin (H, Dr. S und B-GmbH), daß Dr. S aus der GbR ausscheide und dreizehn neue Gesellschafter -- darunter auch der jetzige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, Dr. M -- mit Anteilen von zusammen 95 v. H. der GbR beiträten.

In der Gesellschafterversammlung vom 20. Juni 1986 beschlossen die Gesellschafter der Klägerin, die B-GmbH als Geschäftsführerin der Klägerin abzuberufen und die F- GmbH zur Geschäftsführerin zu bestellen.

Am 27. November 1986 erfuhr das FA durch eine Mitteilung der Betriebsprüfungstelle beim FA Y vom Inhalt des privatschriftlichen Gesellschaftsvertrages vom 1. Juli 1981. Am 22. Dezember 1986 erließ es daher einen auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Grunderwerbsteueränderungsbescheid, in dem die Grunderwerbsteuer auf 126 262 DM erhöht wurde. Dabei ging das FA nunmehr von einer Bemessungsgrundlage von 1 803 750 DM aus und bemaß den gemäß § 5 Abs. 2 GrEStG steuerfrei zu belassenden Anteil des H lediglich mit 46 250 DM. Der Bescheid war an die Klägerin, zu Händen "Herrn Dr. ... S, ... " gerichtet.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin, nachdem er an die F-GmbH weitergeleitet worden war, am 24. Dezember 1986 ... Einspruch ein.

Am 20. Januar 1987 legte der Mitgesellschafter der Klägerin und jetzige Prozeßbevollmächtigte Dr. M. im eigenen Namen sowie namens weiterer elf Gesellschafter nochmals Einspruch ein.

Durch Einspruchsentscheidung vom 25. Mai 1987 wies das FA den Rechtsbehelf als unbegründet zurück. Die Entscheidung wurde Herrn Dr. M als Vertreter der Klägerin zugestellt.

Im Laufe des dagegen unter dem Az. ... /87 beim Finanzgericht (FG) anhängigen Klageverfahrens erklärte das FA mit Schreiben vom 11. Januar 1988 den Steuerbescheid vom 22. Dezember 1986 für unwirksam, weil er nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben worden sei. Demnächst, so führte es aus, werde ein neuer Bescheid erteilt werden, in dem § 5 Abs. 2 GrEStG nicht mehr angewendet werde, weil nach den Abmachungen der Beteiligten der Gesellschafter H alsbald aus der Gesellschaft habe ausscheiden und deshalb kein echtes Gesellschaftsverhältnis habe begründet werden sollen.

Am 7. März 1988 erließ das FA den im vorliegenden Verfahren angefochtenen, auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützten Änderungsbescheid, mit dem es die Grunderwerbsteuer nunmehr auf 129 500 DM festsetzte.

Der dagegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung führte das FA aus, die Festsetzungsfrist sei bei Erlaß des angefochtenen Bescheids noch nicht abgelaufen gewesen. Die Verjährungsfrist betrage zehn Jahre, weil die Klägerin die Grunderwerbsteuer hinterzogen habe. Diese habe durch unrichtige Angaben des Beteiligungsverhältnisses von H zu Unrecht § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) in Anspruch genommen und dies auch beabsichtigt. H sei von Anfang an nicht wirksam an der Gesellschaft beteiligt gewesen.

Das FG wies die Klage im wesentlichen als unbegründet ab. Es führte unter anderem aus:

Die unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG (BY) zu subsumierende Einbringung des Grundstücks durch H in die GbR sei in vollem Umfang steuerpflichtig und nicht nach § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) begünstigt. § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) sei deshalb nicht anwendbar, weil gleichzeitig mit der Gründung der Gesellschaft das Ausscheiden von H aus der Gesellschaft nach Entnahme des von der B-GmbH einzulegenden Betrages von 1 850 000 DM vereinbart worden sei. Dieser Zeitpunkt habe nach dem Gesellschafter beschluß vom 1. Juli 1981 spätestens mit dem Auszug des H aus dem Grundstück, der bis 1. Juni 1982 vorgesehen gewesen sei, zusammenfallen sollen. Sinn und Zweck des § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) setzten aber voraus, daß der einbringende Grundstückseigentümer über seine Gesamthandsberechtigung weiter an dessen Wert beteiligt bleibe.

Das FA habe den angefochtenen Bescheid auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 stützen können, weil ihm sowohl der Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981 als auch der privatschriftliche Gesellschaftsvertrag vom selben Tag, deren Inhalt für die Beurteilung der Anwendbarkeit des § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) von maßgeblicher Bedeutung gewesen sei, nicht bekannt gewesen seien.

Die Festsetzungsfrist sei bei Erlaß des angefochtenen Bescheids vom 7. März 1988 nur hinsichtlich eines Teilbetrages von 3 237,50 DM abgelaufen gewesen (7 v. H. von 46 250 DM). Zwar sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein hinreichender Nachweis dafür, daß die seinerzeit für die Klägerin handelnden Personen -- der Gesellschafter Dr. Z und der Gesellschafter-Geschäftsführer Dr. S -- dem FA die im Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981 und im privatschriftlichen Gesellschaftsvertrag vom selben Tage getroffenen Beteiligungsregelungen wissentlich und in Kenntnis der Steuererheblichkeit vorenthalten hätten, nicht zu führen, so daß eine Steuerhinterziehung ausscheide. Jedoch sei die Grunderwerbsteuer leichtfertig dadurch verkürzt worden, daß der vom notariellen Einbringungsvertrag abweichende Inhalt des privatschriftlichen Gesellschaftsvertrages vom 1. Juli 1981 sowie des Gesellschafterbeschlusses vom selben Tag weder bei der Geltendmachung der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) noch nach Erlaß des Steuerbescheids vom 12. November 1981 dem FA mitgeteilt worden sei. Die nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 bei leichtfertiger Steuerverkürzung geltende Festsetzungsfrist von fünf Jahren sei bei Erlaß des Änderungsbescheids vom 22. Dezember 1986 noch nicht abgelaufen gewesen.

Entgegen der Ansicht des FA sei der erste Änderungsbescheid vom 22. Dezember 1986 rechtswirksam gewesen. In dem Bescheid sei die Klägerin als Steuerschuldnerin zutreffend benannt worden. Zwar sei der Bescheid "zu Händen des Herrn Dr. S" adressiert worden, obwohl die B-GmbH, deren Geschäftsführer Dr. S gewesen sei, mit Beschluß der Gesellschafterversammlung vom 20. Juni 1986 als Geschäftsführerin der Klägerin abberufen worden sei. Der in der fehlerhaften Adressierung des Steuerbescheids liegende Bekanntgabemangel sei jedenfalls durch fehlerfreie Zustellung der Einspruchsentscheidung zu diesem Bescheid geheilt worden. Unbeschadet dessen sei aber der Bescheid schon vor Ablauf der fünfjährigen Festsetzungsfrist dadurch wirksam geworden, daß Dr. S diesen für die Klägerin in Empfang genommen und an einen zu diesem Zeitpunkt für die GbR Handlungsbefugten weitergeleitet habe.

Allerdings sei durch die Aufhebung des ersten Änderungsbescheids vom 22. Dezember 1986 dessen ablaufhemmende Wirkung nach § 171 Abs. 3 Satz 1 und 2 AO 1977 entfallen (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 16. Mai 1990 X R 147/87, BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942, Nr. 4, erster Absatz). Jedoch sei der angefochtene -- zweite -- Änderungsbescheid nach § 174 Abs. 4 AO 1977 zulässig gewesen. Das FA habe den Sachverhalt, der dem Bescheid vom 22. Dezember 1986 zugrunde liege, insoweit unrichtig beurteilt, als es Dr. S noch als Gesellschafter der GbR bzw. als deren zustellungsbevollmächtigten Geschäftsführer angesehen habe. Die spätere -- wenn auch unzutreffende -- Annahme des FA, der Bescheid vom 22. Dezember 1986 sei aus diesem Grunde nicht wirksam geworden, habe das FA zur Aufhebung des Bescheids veranlaßt. Wie es bereits in dem Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1988 angekündigt habe, habe das FA sodann durch Zustellung des Bescheids vom 7. März 1988 an den empfangsbevollmächtigten Gesellschafter Dr. M sämtliche Zweifel an der Wirksamkeit einer Steuerfestsetzung gegenüber der Klägerin beseitigt. Unter einem bestimmten Sachverhalt i. S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 sei der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuer liche Folgen knüpfe (vgl. BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558, 559, Nr. 3 a). Dieser zu beurteilende Lebensvorgang umfasse nach Auffassung des Gerichts neben den Merkmalen, die für die Entstehung der Steuerpflicht maßgebend seien, auch die tatsächlichen Verhältnisse für die Geltendmachung des Steueranspruchs durch wirksame Bekanntgabe des Bescheids an den Steuerschuldner.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie beantragt, die Vorentscheidung und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Die Verfahrensrüge der Klägerin hat keinen Erfolg. Einer Begründung bedarf es insoweit nicht (Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs -- BFHEntlG --).

2. Zutreffend ist das FG zwar davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) für eine gänzliche oder teilweise Nichterhebung der Grunderwerbsteuer im Streitfall nicht vorlagen. Wie sich aus dem Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981 ergibt, stand von vornherein fest, daß H innerhalb eines absehbaren -- kurzen -- Zeitraums aus der Klägerin ausscheiden und dabei lediglich den Betrag von 1 850 000 DM erhalten sollte, der dem von den Gesellschaftern der Klägerin im Zeitpunkt der Einlage festgelegten Wert des eingebrachten Grundstücks entsprach. Im übrigen sollte H weder am Gewinn noch am Verlust der Gesamthand beteiligt sein. Unter diesen Umständen hatte sich H des Grundstücks gleichzeitig mit dessen Einbringung in die GbR -- auch wirtschaftlich -- entäußert, da er nicht mehr an den mit dem Grundstück verbundenen Risiken und Chancen (insbesondere dessen Wertveränderungen) teilnahm. Letzteres ist aber nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats für die Gewährung der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) erforderlich (vgl. z. B. Senatsurteile vom 24. November 1982 II R 38/78, BFHE 138, 97, BStBl II 1983, 429, und vom 16. Januar 1991 II R 38/87, BFHE 163, 246, BStBl II 1991, 374).

Ebenso zutreffend hat das FG angenommen, daß der angefochtene, den ursprünglichen (bestandskräftigen) Grunderwerbsteuerbescheid vom 12. November 1981 ändernde Grunderwerbsteueränderungsbescheid vom 7. März 1988 auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt werden konnte.

Der Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981, dessen Inhalt für die Beurteilung der Anwendbarkeit des § 5 Abs. 2 GrEStG maßgebliche Bedeutung hat, ist dem FA erst nach Erlaß des Erstbescheides vom 12. November 1981 bekannt geworden. Der dem FA bei Erlaß des Erstbescheids vorliegende notarielle Einbringungsvertrag vom 1. Juli 1981 ließ nicht erkennen, daß die Gesellschafter in einer ergänzenden Vereinbarung noch am selben Tag beschlossen hatten, H solle innerhalb kurzer, absehbarer Zeit ohne eine weitere Teilhabe am Grundstück(swert) aus der GbR ausscheiden. Ohne Rechtsirrtum hat das FG daher angenommen, daß das FA dadurch, daß es ohne weitere Ermittlungen von den Angaben der Klägerin in ihrem Schreiben vom 3. November 1981 und von dem Inhalt des vorliegenden notariellen Einbringungsvertrages ausging, nicht die ihm nach § 88 AO 1977 obliegende Ermittlungspflicht mit der Folge verletzt hat, daß die auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gestützte Änderung gegen Treu und Glauben verstoßen würde (vgl. z. B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 173 AO 1977 Rdnr. 28, m. w. N. aus der Rechtsprechung).

3. Nicht zu folgen vermag der Senat dem FG jedoch darin, daß der Ablauf der Festsetzungsfrist dem Erlaß des angefochte nen Grunderwerbsteueränderungsbescheids vom 7. März 1988 lediglich in bezug auf einen Teilbetrag in Höhe von 3 237,50 DM (= 7 v. H. von 2,5 v. H. von 1 850 000 DM = 46 250 DM) entgegengestanden habe. Vielmehr steht der Ablauf der Festsetzungsfrist am 31. Dezember 1986 dem Erlaß des angefochtenen Bescheids insgesamt entgegen.

a) Gemäß § 16 a Satz 1, 1. Alternative GrEStG (BY) beginnt die Festsetzungsfrist im hier gegebenen Fall des § 1 Abs. 1 GrEStG (BY) mit Ablauf des Jahres, in dem der Erwerber (hier: die Klägerin) als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen worden ist. Das FG hat nicht festgestellt, wann die Eintragung der Klägerin (d. h. ihrer Gesellschafter in GbR) in das Grundbuch erfolgte. Indessen kommt es darauf im Streitfall deswegen nicht an, weil die Festsetzungsfrist ohne Rücksicht darauf, ob die Umschreibung im Grundbuch noch im Jahr 1981 geschah, bereits mit Ablauf des Jahres 1981 begann. Wie der erkennende Senat bereits früher entschieden hat, bedarf § 16 a Satz 1, 1. Alternative GrEStG (BY) von seinem Normzweck her einer dahingehenden Einschränkung, daß die Verjährungsfrist schon vor der Eintragung ins Grundbuch mit Ablauf des Jahres beginnt, in dem der Erwerbsvorgang der zuständigen Finanzbehörde in einer Weise bekanntgeworden ist, die es ihr nach möglicher weise erfoderlichen weiteren Ermittlungen erlaubt, den Erwerbsvorgang auf seine Grunderwerbsteuerpflicht zu prüfen (vgl. BFH-Urteil vom 21. Juli 1982 II R 75/81, BFHE 136, 509, BStBl II 1983, 82, unter II.2.; vgl. ferner auch BFH-Urteile vom 12. Juli 1978 II R 166/75, BFHE 125, 442, BStBl II 1978, 666, und vom 4. August 1976 II R 20/71, BFHE 119, 387, BStBl II 1977, 123).

Letzteres ist hier der Fall, weil der notarielle Einbringungsvertrag vom 1. Juli 1981 dem FA bereits am 3. Juli 1981 zur Kenntnis gelangte.

b) Die Festsetzungsfrist endete im vorliegenden Fall, in dem das FG zu Recht eine leichtfertige Steuerverkürzung, und nicht eine Steuerhinterziehung angenommen hat, nach fünf Jahren, d. h. mit Ablauf des Jahres 1986 (vgl. § 169 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative AO 1977).

Ob ein Steuerschuldner bzw. eine Person, derer er sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, eine leichtfertige Steuerverkürzung i. S. des § 378 AO 1977 oder eine Steuerhinterziehung i. S. des § 370 AO 1977 begangen hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob die Rechtsbegriffe der Leichtfertigkeit bzw. des vorsätzlichen Handelns richtig erkannt wurden und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (vgl. z. B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 118 Rdnr. 19).

Das FG hat die Begriffe "Vorsatz" und "Leichtfertigkeit" nicht verkannt. Es hat die festgestellten Tatsachen dahingehend gewürdigt, daß die Vertreter der seinerzeitigen Geschäftsführerin der Klägerin (B- GmbH), nämlich der Geschäftsführer der B-GmbH, Dr. S und deren Mehrheitsgesellschafter Dr. Z, leichtfertig gehandelt hätten. Die Vertreter der Klägerin seien bei der Geltendmachung und Inanspruchnahme der Steuervergünstigung des § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) nach § 90 Abs. 1 AO 1977 zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet gewesen. Insbesondere hätten sie nach § 90 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 die für die Anwendung des § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) erheblichen Tatsachen (Beteiligungsverhältnisse) vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen müssen. Dr. Z, der u. a. mit der Wahrnehmung der im Zusammenhang mit der hier in Rede stehenden Grundstückseinbringung stehenden steuerlichen Angelegenheiten befaßt gewesen sei, habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme maßgeblich an der Abfassung des schriftlichen Antrages vom 3. November 1981 mitgewirkt. Er habe dabei insofern leichtfertig gehandelt, als er sich nicht vor der Abgabe des Antrages Gewißheit über den Inhalt der neben dem Einbringungsvertrag bestehenden gesellschaftsvertraglichen Regelungen verschafft habe. Dr. Z sei auch bekannt gewesen, daß die Höhe der Beteiligung des einbringenden Gesellschafters für die Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 2 GrEStG (BY) rechtserheblich sei. Daneben sei aber auch Dr. S leichtfertiges Handeln anzulasten. Dieser sei nicht nur an dem Abschluß des notariellen Einbringungsvertrages, sondern auch an dem privatschriftlichen Gesellschaftsvertrag und an dem Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981 unmittelbar beteiligt gewesen. Dr. S habe Anlaß gehabt, nach Erhalt des an ihn gerichteten ursprünglichen Grunderwerbsteuerbescheids vom 12. November 1981 die Richtigkeit der Steuerfestsetzung zu überprüfen und sodann das FA auf die abweichenden Regelungen in dem privatschriftlichen Gesellschaftsvertrag und im Gesellschafterbeschluß vom 1. Juli 1981 aufmerksam zu machen.

Demgegenüber sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein hinreichender Nachweis dafür, daß Dr. Z und Dr. S die rechts erheblichen Unterlagen über die wahren Beteiligungsverhältnisse dem FA wissentlich und in Kenntnis ihrer grunderwerbsteuerlichen Relevanz vorenthalten hätten, nicht zu führen, so daß eine Steuerhinterziehung ausscheide.

Diese Ausführungen lassen einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Mangels Vorliegens einer Steuerhinterziehung endete folglich die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 1986.

c) Der erkennende Senat vermag dem FG indessen nicht darin zu folgen, daß der nach Ablauf der Festsetzungsfrist erlassene angefochtene Bescheid vom 7. März 1988 auf § 174 Abs. 4 AO 1977 habe gestützt werden können mit der Folge, daß das Verstreichen der Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 1986 gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 unbeachtlich sei. Entgegen der Ansicht des FG erfassen die Regelungen des § 174 Abs. 4 und 5 AO 1977 lediglich die Fälle, in denen die Finanzbehörde aus "einem bestimmten Sachverhalt" die steuerrechtlichen Folgerungen ziehen will, sich dabei aber darüber irrt, welches Steuerobjekt, welches Steuersubjekt (welchen Steuerpflichtigen; Inhalts adressaten) und welchen Zeitraum bzw. Zeitpunkt diese Folgerungen betreffen (vgl. z. B. Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO 1977 Rdnr. 15). Zu Unrecht meint das FG, der zu beurteilende "bestimmte Sachverhalt" umfasse darüber hinaus auch diejenigen Merkmale, welche für die Geltend machung des Steueranspruchs, namentlich die wirksame Bekanntgabe des Steuerbescheids, relevant seien. Erläßt das FA -- wie hier -- einen Steuerbescheid an den richtigen Steuerschuldner (Inhaltsadressaten), gibt es diesen Bescheid jedoch einem unrichtigen Empfänger (Bekanntgabeadressaten) bekannt und hebt es deswegen den Bescheid auf, um sodann einen neuen Bescheid, der denselben materiell-rechtlichen Lebenssachverhalt erfaßt und sich an denselben Steuerschuldner richtet, an den richtigen Bekanntgabeadressaten zu erlassen, so betreffen beide Bescheide denselben "bestimmten Sachverhalt" i. S. des § 174 Abs. 4 AO 1977. Das belegt auch der systematische Zusammenhang dieser Regelung mit den vorausgehenden Abs. 1 bis 3 des § 174 AO 1977 sowie die Entstehungsgeschichte der Vorschrift (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 153, 154, rechte Spalte, Mitte). Danach müssen sich begrifflich zwei oder mehrere verschiedene Besteuerungsverfahren gegenüberstehen, in denen der bestimmte Sachverhalt möglicherweise geregelt werden könnte. Dementsprechend wird einhellig im Schrifttum von dem Erlaß oder der Änderung einer anderen Steuerfestsetzung gesprochen (vgl. BFH-Urteil vom 8. Juli 1992, XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Rdnr. 18; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 174 Rdnr. 11; Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO 1977 Rdnr. 15).

Hier dagegen betrafen der vom FA aufgehobene Grunderwerbsteuerbescheid vom 28. Dezember 1986 und der anschließend erlassene neue Grunderwerbsteuerbescheid vom 7. März 1988 ein und denselben materiell-rechtlichen Besteuerungssachverhalt und ein und dieselbe Steuerfestsetzung. Lediglich die Bekanntgabe dieser -- einzigen -- Steuerfestsetzung wurde wiederholt, weil das FA offensichtlich davon ausging, daß der Beschied vom 28. Dezember 1986 nicht wirksam bekanntgegeben worden sei.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420340

BFH/NV 1995, 476

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