Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Auslegung des Grenzgängerbegriffes i. S. d. DBA-Schweiz 1971

 

Leitsatz (NV)

1. Das Verhandlungsprotokoll vom 18. Juni 1971 kann der Auslegung von Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971 zugrunde gelegt werden.

2. Die 60-Tage-Grenze i. S. d. Nr. 4 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Juni 1971 bezieht sich auf Arbeitstage im Betrieb.

3. Zu den Arbeitstagen im Betrieb gehören solche Tage nicht, an denen der Arbeitnehmer freiwillig unbezahlte Mehrarbeit leistet. Samstage, Sonntage und Feiertage zählen selbst dann nicht zu den Arbeitstagen, wenn eine Arbeit an diesen Tagen weder ausdrücklich vereinbart ist noch der Arbeitgeber für die an diesen Tagen geleistete unselbständige Arbeit einen anderweitigen Freizeitausgleich oder ein zusätzliches Entgelt gewährt.

 

Normenkette

DBA CHE 1971 Art. 15 Abs. 4-5; Verhandlungsprotokoll vom 18. 6. 1971 Nr. 4

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr 1989 als leitender Angestellter (Prokurist) für einen schweizerischen Arbeitgeber nichtselbständig tätig. Er wohnte in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) innerhalb der Grenzzone zur Schweiz. Seine Arbeitsstätte befand sich in der Schweiz innerhalb der Grenzzone zur Bundesrepublik. Üblicherweise hatte der Kläger von montags bis freitags an der Arbeitsstätte zu arbeiten. Allerdings befand er sich im Jahre 1989 an 76 Tagen für seinen Arbeitgeber auf Dienstreisen teilweise in der Schweiz außerhalb der Grenzzone zur Bundesrepublik und teilweise in Drittstaaten.

Mit seiner Einkommensteuererklärung 1989 machte der Kläger geltend, von der Besteuerung seiner Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in Deutschland abzusehen, weil er wegen des Aufenthaltes an 76 Tagen außerhalb der Grenzzone kein Grenzgänger im Sinne des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (DBA-Schweiz) sei und die Schweiz von seinem Lohn Quellensteuer erhoben habe.

Nach den Feststellungen des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) entfielen von den 76 Tagen, an denen der Kläger sich auf Dienstreisen befand, 16 Tage auf Samstage und Sonntage. Da diese Tage nicht zu den üblichen Arbeitstagen zählten, rechnete sie das FA ab und behandelte den Kläger als Grenzgänger, weil er sich nicht an mehr als 60 Tagen außerhalb der Grenzzone aufgehalten habe. Der entsprechende Einkommensteuerbescheid 1989 datiert vom 15. Februar 1991. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage des Klägers als unbegründet ab.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von Art. 15 Abs. 4 und 5 DBA-Schweiz.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Nach Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA- Schweiz kann ein Grenzgänger mit seinen Einkünften aus unselbständiger Arbeit nur in dem Staat besteuert werden, in dem er ansässig ist. Dazu haben die Vertragsstaaten in Art. 15 Abs. 4 Satz 2 DBA-Schweiz die Absicht bekundet, daß ihre zuständigen Behörden sich über Einzelheiten der Anwendung des Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA- Schweiz verständigen. Tatsächlich war eine Verständigung schon vor Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens für das nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) erforderliche Zustimmungsgesetz herbeigeführt. Sie ist in dem Verhandlungsprotokoll vom 18. Juni 1971 enthalten. Zwar war das Verhandlungsprotokoll formell nicht Gegenstand des Zustimmungsgesetzes vom 5. September 1972 (BGBl II 1972, 1021, BStBl I 1972, 518). Es lag jedoch im Zeitpunkt seiner Verabschiedung den Gesetzgebungskörperschaften vor. Wenn deshalb der deutsche Gesetzgeber gegenüber der vorgesehenen Auslegung keine Vorbehalte laut werden ließ, so spricht dies dafür, daß er der in dem Verhandlungsprotokoll erzielten Verständigung zustimmte. Insoweit bestehen keine Bedenken, das Verhandlungsprotokoll zur Auslegung des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz heranzuziehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 6. Februar 1991 I R 125/90, BFHE 164, 29, 33).

2. Nach der Nr. 4 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Juni 1971 zu Art. 15 Abs. 4 Buchst. c DBA-Schweiz ist es für die Behandlung leitender Angestellter als Grenzgänger unschädlich, wenn sie für ein Drittel der Arbeitstage des Betriebes (einschließlich Betriebsferien) sich nicht an ihren Arbeitsort begeben und an demselben Tage nicht an ihren Wohnsitz zurückkehren. Dabei dürfen aber nicht mehr als 60 Tage auf Reisen nach Orten außerhalb der Grenzzone zu Lasten des Betriebes entfallen. Dazu hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und für den erkennenden Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt, daß der Kläger sich im Streitjahr an 76 Tagen auf Dienstreisen außerhalb der Grenzzone (Ausland und Tessin) befand. Von den 76 Tagen entfielen 16 auf Samstage und Sonntage. Diese Tage zählten nicht zu den Arbeitstagen des Betriebes. Die verbleibenden 60 Arbeitstage machten weniger als ein Drittel der gesamten Arbeitstage des Betriebes aus, für den der Kläger unselbständig tätig war. Bei dieser Sachlage hängt die Entscheidung über die Revision von der Antwort auf die Rechtsfrage ab, ob sich die neben die 1/3-Grenze tretende 60-Tage-Grenze ebenfalls auf die Arbeitstage des Betriebes oder aber auf die Tage bezieht, an denen der Kläger seiner unselbständigen Arbeit nachging bzw. nachgehen mußte.

3. Bei der Beantwortung der Rechtsfrage folgt der erkennende Senat der Rechtsauffassung des FG, daß sich die 60-Tage-Grenze ebenfalls auf die Arbeitstage des Betriebes bezieht. Neben dem Wortlaut und dem Zweck des Verhandlungsprotokolls ist für diese Auslegung der Gesichtspunkt maßgebend, daß die Reisetage "zu Lasten des Betriebes entfallen" müssen.

a) Nr. 4 Buchst. c des Verhandlungsprotokolls vom 18. Juni 1971 besteht aus drei durch Semikola unterteilte Halbsätze. Für den Streitfall ist nur der zweite Halbsatz einschlägig. In ihm wird sowohl die 1/3- Grenze als auch die 60-Tage-Grenze erwähnt. Während sich die 1/3-Grenze ausdrücklich auf "Arbeitstage des Betriebes" bezieht, ist bezogen auf die 60-Tage-Grenze nur von "Tage auf Reisen" die Rede, die zu Lasten des Betriebes entfallen müssen. Der Ausdruck "Tage auf Reisen" kann indes auch im Sinne von "Arbeitstagen des Betriebes auf Reisen" verstanden werden. Die Formulierung erklärt sich ggfs. aus der Absicht der sich verständigenden Behörden, nicht noch einmal den eher umständlichen Ausdruck "Arbeitstage des Betriebes" wiederholen zu wollen. Der Sinnzusammenhang schließt jedenfalls eine Auslegung dahingehend nicht aus, daß unter "Tage" im Sinne der 60-Tage-Grenze nur Arbeitstage des Betriebes fallen, zumal die Regelung nur so auch im Schrifttum verstanden wird (vgl. Kempermann, in: Flick/Wassermeyer/Wingert/Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 15 Rdnr. 76; Hangarter, in: Meyer-Marsilius/Hangarter, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland- Schweiz, Art. 15 Nr. 4 Anm. VI. 2).

b) Für diese Auslegung spricht auch der Zweck des Verhandlungsprotokolls, eine im Besteuerungsverfahren klar nachweisbare und in diesem Sinne praktikable Regelung zu schaffen. Dieser Zweck verbietet es geradezu, auf die Arbeitstage des einzelnen Arbeitnehmers abzustellen. Dann hätte er es in der Hand, durch die unter Umständen freiwillige Ausübung oder Nichtausübung unselbständiger Arbeit während außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit liegender Dienstreisetagen die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 4 DBA- Schweiz zu gestalten, ohne daß dies für die zuständigen Finanzbehörden nachprüfbar wäre. In tatsächlicher Hinsicht wird es jedenfalls von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein, ob der einzelne leitende Angestellte die während einer Dienstreise anfallenden Wochenenden und Feiertage zur Ausübung seiner unselbständigen Arbeit oder zur Beförderung an einen anderen Ort oder aber zur eigenen Freizeit nutzt. Die Finanzbehörden können sich letztlich nur an die Tage halten, an denen sich der Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber zu arbeiten verpflichtet hat. Das sind jedoch nur die Arbeitstage im Betrieb. Dazu gehören solche Tage nicht, an denen der Arbeitnehmer freiwillig unbezahlte Mehrarbeit leistet. Davon geht auch Art. 15 a Abs. 2 DBA-Schweiz in der Fassung des Protokolls vom 21. Dezember 1992 (BGBl II 1993, 1886, BStBl I 1993, 927) aus. Zwar ist dort von "Arbeitstagen" die Rede. Nach Rz. 11 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 19. September 1994 IV C 6 -- S 1301 Schz -- 60/94 (BStBl I 1994, 683) sind darunter jedoch nur die Arbeitstage zu verstehen, die im persönlichen Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers vereinbart sind. Dies sind die Arbeitstage des Betriebes. Darunter fallen nicht freiwillig und ohne zusätzliches Entgelt geleistete Überstunden. Samstage, Sonntage und Feiertage zählen deshalb dann nicht zu den Arbeitstagen, wenn eine Arbeit an diesen Tagen weder ausdrücklich vereinbart ist noch der Arbeitgeber für die an diesen Tagen geleistete unselbständige Arbeit einen anderweitigen Freizeitausgleich oder ein zusätzliches Entgelt gewährt. Dies gilt auch dann, wenn das Gehalt des leitenden Angestellten so großzügig bemessen ist, daß er sich einer gelegentlichen unselbständigen Arbeit an den Wochenenden und an Feiertagen nicht entziehen kann.

c) Für diese Auslegung spricht schließlich die Tatsache, daß nach dem Wortlaut der Nr. 4 Buchst. c des Verhandlungsprotokolls vom 18. Juni 1971 unter die 60-Tage- Grenze nur solche Reisetage fallen sollen, die zu Lasten des im Grenzbereich gelegenen Betriebes gehen. Dies setzt voraus, daß der leitende Angestellte speziell für seine während des einzelnen Reisetages ausgeübte nichtselbständige Arbeit bezahlt wird und daß der in der Grenzzone gelegene Betrieb den Aufwand tragen muß. Die insoweit maßgebenden Reisetage sind betriebsbezogen zu bestimmen. Es kommt nicht darauf an, ob der leitende Angestellte den einzelnen Reisetag zum Arbeitstag erklärt oder ihn zur Freizeit nutzt.

4. Entgegen der Auffassung des Klägers folgt aus der Abgrenzung zwischen Art. 15 Abs. 4 und 5 DBA-Schweiz nichts anderes. Aus dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 5 DBA-Schweiz ergibt sich, daß die Rechtsfolge des Abs. 4 der des Abs. 5 vorgeht (vgl. Kempermann, a. a. O., Rdnr. 74, 75, 80; Hangarter, a. a. O., Anm. IX. 2). Deshalb ist auch der leitende Angestellte als Grenzgänger zu besteuern, wenn er die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 4 DBA- Schweiz erfüllt.

5. Die Vorentscheidung entspricht diesen Grundsätzen. Sie verletzt deshalb nicht Art. 15 Abs. 4 oder 5 DBA-Schweiz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420872

BFH/NV 1996, 200

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