Leitsatz (amtlich)

Kann das Finanzamt nach Durchführung einer Lohnsteueraußenprüfung die zu wenig einbehaltene Lohnsteuer bei den Arbeitnehmern nicht nachfordern, weil diese bestandskräftig zur Einkommensteuer veranlagt worden sind und die Veranlagungen auch nicht nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden können, so kann der Arbeitgeber sich hierauf gegenüber seiner Inanspruchnahme im Haftungswege nicht berufen; seine Inanspruchnahme ist auch nicht ermessensmißbräuchlich.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; StAnpG § 7 Abs. 1; EStG 1958 § 38 Abs. 3 S. 2

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) stellte im Zuge einer Lohnsteuer-Außenprüfung bei der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Jahre 1959 bis 1964 u. a. fest, daß die Klägerin 26 Angestellten geldwerte Vorteile gewährt hatte, die der Lohnsteuer nicht unterworfen worden waren. Im Prüfungsbericht ist ausgeführt, daß die Klägerin die anfallenden Mehrsteuern für diese einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmer nicht übernommen habe. Weiter heißt es: "Die Nachforderung ist nach dem Verfahren bei unterbliebenem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu erheben (Abschn. 220 EStR)..."

Im Zuge dieser Nachforderungsverfahren wurde bei insgesamt sieben der 26 Angestellten folgendes festgestellt:

a) Bei den zur Einkommensteuer veranlagten Angestellten Dr. S. usw. ergaben sich für die Jahre 1959 bis 1964 jeweils so geringe Mehrsteuern (Beträge von durchweg unter 100 DM), daß die Voraussetzungen für Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO (neue Tatsachen von einigem Gewicht) nicht gegeben waren.

b) Die Angestellten D. usw. waren trotz Vorliegens der Voraussetzungen für das Jahr 1959 nicht veranlagt worden.

Wegen der insoweit festgestellten Nachsteuern erließ das FA einen Haftungsbescheid gegen die Klägerin. Das FG setzte den Haftungsbetrag herab. Bei dem verbleibenden Betrage handelt es sich um die auf die Angestellten Dr. S. usw. entfallenden Steuern. Wegen der auf die Angestellten D. usw. entfallenden Steuern für das Jahr 1959 hielt das FG die Inanspruchnahme der Klägerin für ermessensfehlerhaft. Es führte u. a. aus: Das FA habe bei Ausübung seines Ermessens, welchen Gesamtschuldner es in Anspruch nehme, alle Umstände des Einzelfalles gegeneinander abzuwägen. Im Falle der fünf Angestellten Dr. S. usw. entspreche die Ermessensentscheidung des FA Recht und Billigkeit. Dabei sei wesentlich, daß die Inanspruchnahme der Klägerin überhaupt die einzige Möglichkeit sei, die nicht vorschriftsmäßig einbehaltenen Steuern hereinzuholen, nachdem die Wiederaufrollung der einzelnen Veranlagungen dieser Steuerpflichtigen sich als undurchführbar herausgestellt habe. Das Einverständnis der Beteiligten, nach Abschn. 220 EStR zu verfahren, enthalte nicht den Verzicht des FA auf eine Haftbarmachung der Klägerin auch für den Fall, daß die zunächst vorgesehene Veranlagung der Arbeitnehmer sich als undurchführbar erweisen sollte. Die Haftbarmachung der Klägerin sei auch nicht deshalb unzulässig, weil die Inanspruchnahme der Arbeitnehmer wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO (keine neuen Tatsachen von einigem Gewicht) nicht mehr möglich sei. Der Umstand, daß die einzelnen Veranlagungen nicht wieder aufgerollt werden dürfen, berühre ausschließlich das Verhältnis dieser einzelnen Arbeitnehmer zum FA. Im Verhältnis zum Arbeitgeber liege noch keine rechtskräftige Steuerfestsetzung vor. Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 StAnpG i. V. m. § 425 BGB wirke u. a. ein rechtskräftiges Urteil nur für und gegen den am Rechtsstreit beteiligten Gesamtschuldner. Ebensowenig überzeuge die Überlegung, eine Haftbarmachung der Klägerin müsse unterbleiben, weil die Arbeitnehmer sonst nach zivil- und arbeitsrechtlichen Grundsätzen der Arbeitgeberin die nachgeforderten Steuern erstatten müßten und mithin trotz der Schranke des § 222 AO im Ergebnis mit den Nachsteuern belastet würden. Es hieße die Anforderungen an das FA überspannen, wenn es die zivilrechtlichen Folgerungen im Verhältnis Arbeitgeber - Arbeitnehmer, die z. B. noch von weiteren Willensentscheidungen des Arbeitgebers abhängen, bei einer Ermessensausübung mitberücksichtigen müßte. Die Inanspruchnahme der Klägerin sei jedoch ermessensfehlerhaft, soweit es sich um die von den Angestellten D. usw. für das Jahr 1959 geschuldeten Steuern handele. Obwohl diese Angestellten für 1959 nach Art und Höhe ihrer Einkommen die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 EStG erfüllt hätten, habe das FA keine Veranlagung durchgeführt. Es seien keine Gründe ersichtlich, die es rechtfertigen könnten, von dem ausdrücklich vereinbarten Verfahren nach Abschn. 220 EStR abzuweichen und die Mehrsteuern unmittelbar von der Klägerin anzufordern.

Mit der Revision wendet sich die Klägerin gegen die Aufrechterhaltung des Haftungsbescheides hinsichtlich der fünf Angestellten Dr. S. usw. Sie ist der Auffassung, daß bei der Schlußbesprechung eine Vereinbarung des Inhalts getroffen worden sei, die Nachsteuern für veranlagte Arbeitnehmer nur durch Wiederaufrollung der entsprechenden Veranlagungen zu erheben. Sie führt aus: Der Haftungsbescheid in seinem noch bestehenden Umfange sei ferner deshalb gesetzwidrig, weil die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht weiterreichen könne als die Möglichkeit der Inanspruchnahme des eigentlichen Steuerschuldners. Der Grundsatz des vom 1. Januar 1966 an aufgehobenen § 119 Abs. 1 AO a. F., nach dem der neben dem Steuerpflichtigen auf Zahlung einer Steuer in Anspruch Genommene gegen seine Heranziehung die Rechtsmittel geltend machen kann, die dem Steuerpflichtigen zustehen, sei nach wie vor geltendes Recht. Dies ergebe sich auch aus § 97 Abs. 2 AO.

Der Bundesminister der Finanzen (BdF) ist dem Verfahren beigetreten und hat u. a. ausgeführt: Innerhalb der Verjährungsfrist des Haftungsanspruchs sei - von § 149 AO abgesehen - die Heranziehung des haftenden Arbeitgebers außer nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit, die für die Ausübung des behördlichen Ermessens gelten, durch gesetzliche Regelungen nicht eingeschränkt. Die Heranziehung des Arbeitnehmers im Wege der Veranlagung führe keineswegs zum Erlöschen des Haftungsanspruchs gegen den Arbeitgeber. Das Gesamtschuldverhältnis ende erst, wenn die Schuld von einem der Gesamtschuldner erfüllt sei (§ 7 Abs. 4 Satz 2 StAnpG). Nach § 7 Abs. 4 StAnpG komme die Zahlung (Entrichtung) durch einen Gesamtschuldner auch den anderen Gesamtschuldnern zustatten. Man könne hieraus lediglich ableiten, daß der Haftende gegen den Haftungsbescheid Einwendungen geltend machen kann, die den Grund oder die Höhe der Steuerschuld betreffen. Könne der veranlagte Arbeitnehmer nur deshalb nicht mehr in voller Höhe herangezogen werden, weil seine Veranlagung nach § 222 AO nicht mehr wieder aufgerollt werden könne, so habe dies auf Entstehung und Höhe des Lohnsteueranspruchs keinen Einfluß. Lediglich dessen Durchsetzbarkeit gegenüber dem Steuerschuldner sei durch die eingetretene Bestandskraft, also aus verfahrensrechtlichen Gründen, eingeschränkt. Eine Drittwirkung dieser Bestandskraft auf den Haftungsanspruch würde den bestandskräftigen Veranlagungsbescheid mit einer Rechtswirkung versehen, wie sie nicht einmal einem rechtskräftigen Urteil zukomme. Es treffe schließlich auch nicht zu, daß die Nacherhebung beim Arbeitgeber nur zu einer vorübergehenden Befriedigung des Steuergläubigers führe. Der vom Arbeitgeber gezahlte Steuerbetrag dürfe nicht nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 EStG auf die Einkommensteuerschuld des veranlagten Arbeitnehmers angerechnet werden, so daß der Arbeitnehmer auch nicht mit diesem Betrag den zivilrechtlichen Erstattungsanspruch des Arbeitgebers erfüllen könne. Denn nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 EStG müsse die anzurechnende Steuer von den Einkünften des Arbeitnehmers abgezogen sein. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall aber nicht erfüllt, da der Arbeitgeber seiner Einbehaltungspflicht nicht nachgekommen sei. Auch sei eine Verminderung der Einkünfte des Arbeitnehmers um die Steuerabzugsbeträge allein durch die Existenz eines zivilrechtlichen Erstattungsanspruchs noch nicht eingetreten. Einer Anrechnung der im Haftungswege erhobenen Lohnsteuer stehe zudem die Bestandskraft der Veranlagung des Arbeitnehmers entgegen. Die im Steuerbescheid vorzunehmende oder vorgenommene Anrechnung solle nach Art eines Kontoauszugs Auskunft darüber geben, inwieweit die im Festsetzungsteil des Steuerbescheids ermittelte Steuerschuld bereits getilgt sei. Die Verrechnungsfestsetzung habe somit einen unmittelbaren Bezug auf die im Steuerbescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen. Nur soweit im Hinblick auf die sich aus den Besteuerungsgrundlagen des Bescheids ergebende Steuerschuld etwaige Steuerabzugsbeträge unzutreffend angerechnet worden seien, könne eine Berichtigung - und zwar uneingeschränkt bis zum Ablauf der Verjährungsfrist - vorgenommen werden (vgl. Abschn. 221a EStR). Hieraus folge, daß auch zwischen der Zulässigkeit einer Berichtigung der Veranlagung einerseits und der Berichtigung der Anrechnung von Lohnsteuer-Abzugsbeträgen andererseits ein enger Zusammenhang in dem Sinne bestehe, daß wenn die Veranlagung nach § 222 AO nicht mehr aufgerollt werden könne, auch eine Berichtigung der Anrechnung einbehaltener Lohnsteuer-Abzugsbeträge weder zulässig noch geboten sei, da die Abrechnungsfestsetzung hinsichtlich der im Bescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen nicht als fehlerhaft angesehen werden könne. Aus denselben Gründen könnte auch einem Begehren des veranlagten Arbeitnehmers, ihm die vom haftenden Arbeitgeber erhobene Lohnsteuer im Wege des Abrechnungsbescheides nach § 125 AO zu erstatten, nicht entsprochen werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

I.

Nach § 38 Abs. 3 Satz 2 EStG 1958 haftet der Arbeitgeber für die Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer. Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, daß die im Haftungsbescheid nachgeforderte, noch streitige Lohnsteuer von veranlagten Arbeitnehmern von der Klägerin bei der Auszahlung des Arbeitslohns unter Verletzung bestehender Vorschriften nicht einbehalten worden ist. Die Voraussetzungen der Klägerin für eine Inanspruchnahme auf Grund ihrer Haftung sind daher insoweit grundsätzlich erfüllt.

II.

Dem Recht des FA, die Klägerin im Haftungswege in Anspruch zu nehmen, steht nicht entgegen, daß die Klägerin und ihre Arbeitnehmer Gesamtschuldner sind (§ 7 Abs. 1 StAnpG) und daß die bestandskräftigen Veranlagungen der Angestellten nicht mehr berichtigt werden können. Einige der Rechtsfolgen, die sich aus dem Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses ergeben, sind in der Reichsabgabenordnung ausdrücklich geregelt. Diese Vorschriften sagen indessen zu der Frage, ob der Haftende dem FA das Bestehen einer bestandskräftigen, nicht berichtigungsfähigen Veranlagung des Steuerschuldners entgegenhalten kann, nichts aus. Mangels ausdrücklicher steuerrechtlicher Vorschriften erscheint es geboten, zur Auslegung des ersichtlich dem bürgerlichen Recht nachgebildeten steuerrechtlichen Rechtsinstituts der Gesamtschudnerschaft die Vorschriften des bürgerlichen Rechts heranzuziehen (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 7 StAnpG, Anm. 2 - Lieferung 44, November 1965 -). In Betracht kommt insbesondere § 425 BGB. Dort ist sinngemäß vorgeschrieben, daß u. a. ein Urteil, soweit sich nicht aus dem Schuldverhältnis etwas anderes ergibt, nur für und gegen den Gesamtschuldner wirkt, gegen den es ergangen ist. Dieser Grundsatz ist auch im Streitfall anwendbar und besagt, wie schon das FG zutreffend ausgeführt hat, daß die Klägerin sich als Gesamtschuldnerin nicht auf die bestandskräftige Festsetzung der Einkommensteuerschuld im Veranlagungsverfahren gegen ihre Arbeitnehmer berufen kann. Die Vorschrift des § 119 Abs. 1 AO a. F., auf die die Klägerin verweist, steht dieser Auslegung schon deshalb nicht entgegen, weil sie lediglich die Rechtsmittelbefugnis des Haftenden regelte, aber ebenfalls zu der Frage, welche Einwendungen aus dem Recht des Steuerschuldners der Haftende geltend machen konnte, nichts aussagte.

III.

Eine Haftungsbeschränkung der Klägerin läßt sich schließlich auch nicht aus den Besonderheiten des Lohnsteuerrechts (insbesondere dem sich daraus ergebenden Verhältnis der Klägerin als Haftender zu den Arbeitnehmern als Steuerschuldnern) herleiten. Diese Besonderheiten bestehen darin, daß die Lohnsteuer grundsätzlich "an der Quelle", nämlich bei der Zahlung des Arbeitslohns durch den Arbeitgeber, erhoben wird. Hiervon wird, wie die Klägerin zutreffend bemerkt, die Stellung des Arbeitnehmers als Steuerschuldner nicht berührt (§ 38 Abs. 3 Satz 1 EStG 1958). Andererseits bedeutet die Vornahme des Steuerabzugs an der Quelle aber auch nicht, daß für den Arbeitgeber als den zur Vornahme des Lohnsteuerabzugs Verpflichteten dieselben Rechtsgrundsätze gelten müßten wie für den Steuerschuldner. Die Ausgestaltung des Lohnsteuer-Abzugsverfahrens beinhaltet im Gegenteil in wesentlichen Punkten abweichende Rechtsgrundsätze für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Es ist anerkannten Rechts, daß der Arbeitgeber den Arbeitslohn vorschriftsmäßig gekürzt hat, wenn er die Lohnsteuer entsprechend den Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte berechnet hat (vgl. Urteil des BFH vom 9. Juni 1965 VI 237/64, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 38, Rechtsspruch 61, HFR 1965, 513) und wenn er der Berechnung der Lohnsteuer die für das Streitjahr gültigen Lohnsteuertabellen zugrunde gelegt hat (vgl. BFH-Urteile vom 6. Mai 1959 VI 252/57 U. BFHE 69, 83, BStBl III 1959, 292, und vom 11. Juni 1970 VI R 67/68, BFHE 99, 310, BStBl II 1970, 664). Für die in diesem Sinne vorschriftsmäßige Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer haftet der Arbeitgeber (§ 38 Abs. 3 Satz 2 EStG 1958). Der Senat hat bisher nur in einem Falle eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß für die Haftung des Arbeitgebers die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte verbindlich sind, zugelassen, nämlich wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Zugehörigkeit von Bezügen zum Arbeitslohn und damit auch über die Notwendigkeit der Eintragung der mit diesen Bezügen zusammenhängenden Werbungskosten irrten und irren konnten (Urteile vom 20. Dezember 1957 VI 105/55 U, BFHE 66, 217, BStBl III 1958, 84; vom 29. November 1968 VI R 279/67, BFHE 94, 336, BStBl II 1969, 173, und vom 5. November 1971 VI R 207/68, BFHE 103, 472, BStBl II 1972, 137). In diesen Fällen ist zugelassen worden, daß der Arbeitgeber im Haftungsverfahren sich ohne Rücksicht auf etwa abgelaufene Fristen für Lohnsteuer-Jahresausgleich oder Veranlagung auf die höheren nicht auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Werbungskosten berufen konnte. Diese Ausnahme ist im Streitfall aber nicht gegeben.

Die Bindung des Arbeitgebers an die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte zeigt Auswirkungen nach zwei verschiedenen Richtungen. Sie bedeutet einerseits, daß vom Standpunkt des Arbeitgebers aus die Einbehaltung von Lohnsteuer auch dann gerechtfertigt ist, wenn die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte zum Nachteil des Arbeitnehmers unrichtig sind (z. B. weil das FA einen zu niedrigen Freibetrag oder eine zu niedrige Kinderzahl eingetragen hat). Die Bindung an die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte bedeutet für den Arbeitgeber andererseits aber auch, daß er nicht haftbar gemacht werden kann, wenn die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte zugunsten des Arbeitnehmers unrichtig sind (z. B. weil ein zu hoher Freibetrag oder eine zu günstige Steuerklasse eingetragen worden ist). Lohnsteuer, die aus diesem Grunde vom Arbeitgeber zu wenig einbehalten worden ist, kann vom FA nur unmittelbar vom Arbeitnehmer nachgefordert werden. Entsprechendes gilt bei Anwendung der Lohnsteuertabellen.

Unterschiede zwischen der Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers und dem Umfang der Haftung des Arbeitgebers können sich schließlich auch daraus ergeben, daß der Arbeitnehmer im Nachforderungsverfahren grundsätzlich auch noch nachträglich Ermäßigungsgründe geltend machen kann (BFH-Urteile vom 26. Januar 1973 VI R 136/69, BFHE 108, 338, BStBl II 1973, 423, und vom 26. Januar 1973 VI R 201/69, BFHE 108, 343). Dem Arbeitgeber ist dies im Haftungsverfahren wegen seiner Bindung an die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte aber grundsätzlich verwehrt (BFH-Urteil VI 105/55 U).

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß sich aus der systematischen Gestaltung des Lohnsteuerrechts Unterschiede hinsichtlich der Steuerschuld des Arbeitnehmers und dem Umfang der Haftung des Arbeitgebers ergeben können. Für den Streitfall bedeutet dies, daß eine für einen Arbeitnehmer durchgeführte Veranlagung, auch wenn das Ergebnis nicht mehr berichtigt werden kann, nicht ohne weiteres den durch andere Gesichtspunkte bestimmten Umfang der Haftung des Arbeitgebers begrenzen kann.

IV.

Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß auch dann, wenn eine Haftung des Arbeitgebers an sich aus Rechtsgründen gegeben ist, die Inanspruchnahme des Arbeitgebers nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unzulässig sein kann, wenn die Inanspruchnahme Recht und Billigkeit widerspricht. Dabei hat der Senat unterschieden zwischen dem Fall, daß die Inanspruchnahme des Arbeitgebers vor dem Arbeitnehmer unzulässig ist, und dem anderen Fall, daß eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers überhaupt ausgeschlossen ist.

1. Die Frage, ob der Arbeitgeber vor dem Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden darf, kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände entschieden werden. Dabei ist von dem gesetzgeberischen Zweck des Lohnsteuerverfahrens, durch den Abzug an der Quelle den schnellen Eingang der Lohnsteuer in einem vereinfachten Verfahren sicherzustellen, auszugehen. Kann die nachzuerhebende Lohnsteuer ebenso schnell und ebenso einfach sofort beim Arbeitnehmer hereingeholt werden, so kann die Inanspruchnahme des Arbeitgebers unzulässig sein. Der Senat hat dies in der Regel angenommen, wenn der Arbeitnehmer ohnehin zu veranlagen ist (Urteile vom 30. November 1966 VI 164/65, BFHE 88, 164, BStBl III 1967, 331, und vom 12. Januar 1968 VI R 117/66, BFHE 91, 306, BStBl II 1968, 324). Andererseits hat er betont, daß auch dann, wenn Arbeitnehmer zu veranlagen sind, die sofortige Inanspruchnahme des Arbeitgebers zulässig ist, wenn eine Vielzahl von meist kleineren Lohnsteuerbeträgen nachzufordern ist und die sofortige Inanspruchnahme des Arbeitgebers der Vereinfachung dient (Urteil vom 16. März 1962 VI 85/61 U, BFHE 75, 36, BStBl III 1962, 282) oder wenn die Einbehaltung der Lohnsteuer in einem rechtlich einfach und eindeutig liegenden Falle nur deshalb unterblieben ist, weil der Arbeitgeber sich über seine Verpflichtungen nicht hinreichend unterrichtet hat (Urteil vom 5. Februar 1971 VI R 82/68, BFHE 101, 389, BStBl II 1971, 353).

Ist nach diesen Grundsätzen die sofortige Inanspruchnahme des Arbeitgebers unzulässig, so kann dieser trotzdem jedenfalls dann in Anspruch genommen werden, wenn der Versuch des FA, die Lohnsteuer unmittelbar beim Arbeitnehmer nachzuerheben, erfolglos verlaufen ist. Schon das BFH-Urteil vom 18. Juli 1958 VI 134/57 U (BFHE 67, 290, BStBl III 1958, 384) stellt klar, daß der Arbeitgeber auch bei einer Veranlagung des Arbeitnehmers jedenfalls dann herangezogen werden kann, wenn der Arbeitnehmer trotz der Veranlagung die Lohnsteuer tatsächlich nicht entrichtet. Es entspricht diesen Grundsätzen, daß nach dem BFH-Urteil vom 10. Januar 1964 VI 262/62 U (BFHE 78, 560, BStBl III 1964, 213) der Arbeitgeber erneut im Haftungswege in Anspruch genommen werden kann, wenn der gegen ihn zunächst erlassene Haftungsbescheid aufgehoben worden ist, weil zunächst der Arbeitnehmer herangezogen werden soll, sofern die Steuer beim Arbeitnehmer nicht eingezogen werden kann.

Im Streitfall hat sich das FA nach Durchführung der Lohnsteuer-Außenprüfung zunächst an die Arbeitnehmer gehalten, bei denen die Beteiligten davon ausgingen, daß sie zu veranlagen seien. Es hatte allerdings bei den veranlagten Angestellten, deren nachzuerhebende Lohnsteuer jetzt noch streitig ist, keinen Erfolg. Aus den Grundsätzen von Treu und Glauben können deshalb nunmehr gegen die Inanspruchnahme der Klägerin Einwendungen nicht mehr hergeleitet werden.

Wenn die Klägerin sich auf eine im Betriebsprüfungsbericht zum Ausdruck kommende Zusage des FA, Abschn. 220 Nr. 2 EStR anzuwenden, beruft, so übersieht sie, daß dort lediglich die Rechtsprechung wiedergegeben worden ist und daß die dort angeführten BFH-Urteile VI 164/65 und VI R 117/66 die Inanspruchnahme des Arbeitgebers nur ausschließen, wenn die Lohnsteuer bei dem Arbeitnehmer genauso schnell hereingeholt werden kann. Gerade dies hat sich, wie dargelegt, jedoch als nicht möglich erwiesen. Das FA hätte also eine solche Zusage, falls sie vorgelegen haben sollte, erfüllt und eingehalten.

2. Mit Fällen, in denen eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers überhaupt ausgeschlossen sein kann, hat sich die Rechtsprechung z. B. in den Urteilen vom 20. Juli 1962 VI 167/61 U (BFHE 76, 64, BStBl III 1963, 23) und vom 21. Januar 1972 VI R 187/68 (BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364) befaßt. Nach dem Urteil VI 167/61 U kann die Inanspruchnahme des Arbeitgebers ausgeschlossen sein, wenn der Arbeitgeber eine bestimmte Methode der Steuerberechnung angewendet hat und wenn diese Methode bei einer vorangegangenen Betriebsprüfung nicht beanstandet worden ist, sofern die Tatsachenfeststellungen oder Erklärungen des Prüfers tatsächlich in den Wissensbereich der zur Sachentscheidung berufenen Beamten des FA gelangt sind. Im BFH-Urteil VI R 187/68 wird die Rechtsprechung bestätigt, die eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers dann ausschließt, wenn die Pflichtverletzung nicht im Zusammenhang mit der Abführung, sondern mit der Einbehaltung der Lohnsteuer steht und wenn den Arbeitgeber dabei nur ein geringfügiges Verschulden trifft.

Eine Anwendung dieser Grundsätze auch dann, wenn bei einem veranlagten Arbeitnehmer die Veranlagung nicht mehr berichtigt werden kann, hält der Senat nicht für vertretbar. Dies gilt unabhängig davon, ob die Nacherhebung der Lohnsteuer beim Arbeitgeber nur zu einer vorübergehenden oder ob sie zu einer endgültigen Befriedigung des Steuergläubigers führt. Die Befriedigung des Steuergläubigers würde nur dann vorübergehend sein, wenn die nacherhobene Lohnsteuer auf die Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers, die dieser bereits voll entrichtet hat, nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 EStG anzurechnen und an ihn auszuzahlen wäre. Die Frage, ob eine solche Anrechnung vorzunehmen ist, kann indessen nur in dem dafür vorgesehenen Verfahren nach Ergehen eines Abrechnungsbescheides (§ 125 AO) oder in einem Erstattungsverfahren (§§ 150 ff. AO) entschieden werden. Es würde dem Sinn und Zweck des Lohnsteuerhaftungsverfahrens, eine schnelle und einfache Erhebung der Lohnsteuer zu ermöglichen, widersprechen, wenn dieses Verfahren damit belastet würde. Der Senat kann deshalb auch dahingestellt lassen, ob die im Haftungswege beim Arbeitgeber nacherhobene Lohnsteuer, wie der BdF meint, beim Vorliegen einer bestandskräftigen, nicht berichtigungsfähigen Veranlagung des Arbeitnehmers überhaupt auf die Einkommensteuerschuld angerechnet werden darf.

V.

Nach diesen Grundsätzen war der Entscheidung des FG, soweit diese den Haftungsbescheid wegen der Lohnsteuernachforderung für die zur Einkommensteuer veranlagten Angestellten Dr.S. usw. für rechtmäßig erklärt hat, im Ergebnis, wenn auch mit zum Teil abweichender Begründung, beizutreten. Der Revision der Klägerin, die sich hiergegen wandte, war daher der Erfolg zu versagen. Soweit das FG den Haftungsbetrag um die Lohnsteuer für die nicht veranlagten Angestellten D. usw. herabgesetzt hat, war seine Entscheidung nicht angefochten. Hierzu war deshalb nicht Stellung zu nehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71050

BStBl II 1974, 756

BFHE 1975, 157

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