Entscheidungsstichwort (Thema)

Erlaß von Säumniszuschlägen aus Billigkeitsgründen

 

Leitsatz (NV)

Säumniszuschläge können nicht nur dann aus Billigkeitsgründen erlassen werden, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist. Die Ausübung eines Druckes zur Zahlung durch Erhebung von Säumniszuschlägen kann auch dann ihren Sinn verlieren, wenn das Finanzamt dem Steuerpflichtigen Vollstreckungsschutzmaßnahmen - vor allem Ratenzahlung als Maßnahme nach § 258 AO 1977 - eingeräumt hat.

 

Normenkette

AO 1977 § 227 Abs. 1, §§ 240, 258

 

Tatbestand

Mit Steuerbescheid vom 12. Juli 1979 nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für Steuern in Höhe von . . . DM in Anspruch. Der Betrag war sofort fällig. Die Klägerin zahlte jedoch nicht, sondern beantragte am 13. Juli 1979, die Vollziehung des Bescheides auszusetzen. Das HZA lehnte das am gleichen Tage ab und verfügte die Einleitung des Zwangsverfahrens für den Fall, daß die Klägerin innerhalb der nächsten Woche keine Sicherheit leiste. Daraufhin wandte sich die Klägerin mit einem Aussetzungsantrag an das Finanzgericht (FG). Auf Anfrage des FG verpflichtete sich das HZA, bis zu einer Gerichtsentscheidung von Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen. Nachdem das FG den Antrag der Klägerin abgelehnt hatte, erklärte diese sich am 2. August 1979 bereit, die Abgabenschuld in Raten zu tilgen. Das HZA sicherte ihr zu, nicht zu vollstrecken, wenn sie die versprochenen Raten zahle. Wie vereinbart wurden am 8. August 1979 . . . DM, am 12. August 1979 weitere . . . DM und am 5. Oktober 1979 die restlichen . . . DM entrichtet. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 12. Oktober 1979 forderte das HZA von der Klägerin wegen verspäteter Zahlung Säumniszuschläge in Höhe von . . . DM.

Den Antrag der Klägerin, ihr die Säumniszuschläge nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) zu erlassen, lehnte das HZA mit Bescheid vom 21. Mai 1980 ab. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Die Oberfinanzdirektion (OFD) begründete ihre Entscheidung vom 9. Oktober 1980 im wesentlichen wie folgt: Materielle Billigkeitsgründe seien nicht gegeben. Die Einziehung der Säumniszuschläge werde erst dann unbillig, wenn der Steuerpflichtige zweifelsfrei überschuldet und zahlungsunfähig sei (Senatsurteil vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727). Es könne dahinstehen, ob die Klägerin überschuldet sei; jedenfalls sei sie nicht zahlungsunfähig. Das habe sie bewiesen, in dem sie zwischen August 1979 und Oktober 1980 insgesamt rd. 14 Mio. DM Abgaben bezahlt habe. Durch die Tilgungsabrede sei die Fälligkeit der Steuerforderung nicht hinausgeschoben worden; es sei nur auf Vollstreckungsmaßnahmen verzichtet worden. Persönliche Billigkeitsgründe lägen nicht vor. Die Einziehung der Säumniszuschläge führe nicht zu einer existenzgefährdenden Notlage.

Das FG wies die Klage mit folgender Begründung ab:

Das HZA habe eine Ermessensentscheidung getroffen, die das FG nur im Rahmen des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) überprüfen könne. Bei Säumniszuschlägen sei ein zwingender Erlaßgrund wegen sachlicher Unbilligkeit gegeben, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich sei und deshalb die Ausübung eines Druckes zur Zahlung ihren Sinn verliere. Zahlungsunfähigkeit sei das auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhende dauernde Unvermögen des Schuldners, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden noch im wesentlichen zu berichtigen. Dauerndes Unvermögen werde bereits bejaht, wenn feststehe, daß der Schuldner in den nächsten drei bis sechs Monaten seine wesentlichen und fälligen Verbindlichkeiten nicht werde begleichen können (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. März 1984 I R 44/80, BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415). Davon könne hier schon nach dem Vorbringen der Klägerin keine Rede sein. Es sei nur eine Zahlungsstockung eingetreten, bei der zu erwarten sei, daß der Schuldner seine Verbindlichkeiten innerhalb eines Zeitraums erfüllen werde, der nach Auffassung des Verkehrslebens den Mangel an bereiten Mitteln als einen vorübergehenden erscheinen lasse.

Ihre Revision begründet die Klägerin wie folgt:

Sie sei eine GmbH mit einem Stammkapital von . . . DM. Aufgrund von Rücklagen habe der Wert der Gesellschaft etwa das Zwei- bis Dreifache des Stammkapitals betragen. Die Gesellschaft habe sich bis zu den Fahndungsmaßnahmen des HZA nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befunden. Aufgrund von zwei vorangegangenen Bescheiden des HZA sei ihre Liquidität bereits stark eingeschränkt gewesen, als der Bescheid über . . . DM erlassen worden sei. Zuvor habe das HZA mehrfach angekündigt, daß weitere Bescheide bis zur Gesamthöhe von etwa . . . DM noch ergehen würden. Sie, die Klägerin, sei zu diesem Zeitpunkt überschuldet gewesen. Dennoch sei seinerzeit kein Antrag auf Konkurseröffnung gestellt worden, weil sie der Ansicht gewesen sei, zu Unrecht in Anspruch genommen worden zu sein. Die Überschuldung sei erst durch die Vereinbarung mit dem HZA vom 17. Juli 1980 beseitigt worden, durch die weitere Zahlungen an das HZA durch Zuführung neuer Mittel sichergestellt worden sei, während das HZA auf weitere Ermittlung und weitere steuerrechtliche Inanspruchnahme verzichtet habe.

Sie sei außerstande gewesen, den mit dem Bescheid vom 12. Juli 1979 angeforderten Betrag in vollem Umfang zu zahlen. Ihre Hausbank habe sich geweigert, weitere Kredite zu geben. Es lasse sich feststellen und beweisen - Beweis sei in erster Instanz mehrfach angeboten worden -, daß sie - eine im übrigen ohne jeden Zweifel leistungsfähige Gesellschaft - ausschließlich aufgrund von Steuernachforderungen in Schwierigkeiten geraten sei, die die rechtzeitige Zahlung absolut unmöglich gemacht hätten. Sie habe nachweisbar das HZA nicht hinter andere Verbindlichkeiten gestellt und alle erdenklichen Aktivwerte zum Zwecke der Kreditaufnahme an die Hausbank übertragen und somit für den Fiskus realisiert. Sie habe nach Einleitung der Fahndungsmaßnahmen und nach Erlaß der jeweiligen Steuerbescheide alles getan, um ihren Verpflichtungen, die sie für unberechtigt gehalten habe und noch halte, nachzukommen. Der Anwendung irgendwelcher Druckmittel habe es in keiner Weise bedurft.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung sowie den Bescheid des HZA vom 21. Mai 1980 und die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 9. Oktober 1980 aufzuheben.

Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision und die Klage haben Erfolg. Der Bescheid des HZA vom 21. Mai 1980 und die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 9. Oktober 1980 werden ersatzlos aufgehoben. Entgegen der Auffassung des FG ist die Ablehnung des Erlaßantrags nicht frei von Ermessensfehlern.

Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen rechnen auch die Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der Säumniszuschläge (§ 37 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 3 AO 1977). Die Entscheidung über ein Erlaßbegehren ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen geprüft werden kann. Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des den Erlaß ablehnenden Bescheides darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Der ablehnende Bescheid des HZA vom 21. Mai 1980 in der Fassung der Beschwerdeentscheidung der OFD vom 9. Oktober 1980 genügt diesen Anforderungen nicht. Denn nach Sachlage hätte bei der Entscheidung über den Erlaßantrag der Klägerin auch der am 2. August 1979 unter Auferlegung von Ratenzahlungen gewährte Vollstreckungsaufschub berücksichtigt werden müssen. Die OFD hat diesen Umstand jedoch nicht in der gebotenen Weise in ihre Ermessenserwägungen einbezogen.

Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (vgl. Beschluß des Senats vom 4. November 1986 VII B 108/86, BFH/NV 1987, 555, 557, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung der Zahlung fälliger Steuern; sie entstehen kraft Gesetzes bei unterbliebener Zahlung, ohne daß es auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen ankommt (BFH-Urteil vom 2. Juli 1986 I R 5/83, BFH/NV 1987, 684, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Ein Erlaßgrund wegen sachlicher Unbilligkeit besteht nach der Rechtsprechung des BFH insbesondere dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und die Ausübung eines Druckes zur Zahlung damit ihren Sinn verliert (Senatsurteil vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727). In seinem Urteil vom 8. März 1984 I R 44/80 (BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415) hat der I. Senat des BFH die Voraussetzungen dieser Erlaßsituation im einzelnen dargestellt. Im Streitfall bestand nach den tatsächlichen Feststellungen des FG ein derartiger Erlaßgrund nicht. Es bedarf keines Eingehens auf die Einwendungen der Revision gegen diese Auffassung, da Revision und Klage aus anderen Gründen Erfolg haben.

OFD und das FG haben die zitierte Rechtsprechung des BFH offenbar dahin verstanden, daß der Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen in jedem Falle Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen voraussetze. In dieser BFH-Rechtsprechung ist aber keine abschließende Darstellung der Voraussetzungen zu sehen, unter denen Säumniszuschläge im Billigkeitswege erlassen werden können. Wie der V. Senat des BFH mit Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79 (BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489) entschieden hat, kann für die Erhebung der Säumniszuschläge als Druckmittel zur Zahlung der Sinn auch in Fällen entfallen, in denen das FA dem Steuerpflichtigen Vollstreckungsschutzmaßnahmen einräumt. Die Anforderung von Säumniszuschlägen kann nach diesem Urteil unangemessen sei, wenn die einstweilige Verschonung von der Zwangsvollstreckung anstelle einer - an sich möglichen oder gebotenen - Stundung gewährt wurde. Das gilt vor allem, wenn wie hier Ratenzahlung als Maßnahme i. S. des § 258 AO 1977 eingeräumt wurde, um auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen für eine längere Zeitspanne Rücksicht zu nehmen. Richten sich die vereinbarten Raten nach der äußersten Grenze der Zahlungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, so kann davon ausgegangen werden, daß die Säumniszuschläge als Druckmittel hinsichtlich der Zahlung des gesamten Steuerbetrages ihren Zweck verlieren. Unter Berücksichtigung des zusätzlichen Zwecks der Säumniszuschläge als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung liegt es allerdings auch in solchen Fällen zur Verhinderung einer wirtschaftlichen Bevorzugung gegenüber dem pünktlichen Steuerzahler nahe, nur einen Teilerlaß der Säumniszuschläge als sachlich ermessensgerecht anzusehen (vgl. BFHE 143, 512, 517, BStBl II 1985, 489).

Diesen Ermessensrahmen haben das HZA und die OFD nicht eingehalten. Die OFD hat sich zwar in ihrer Ermessensentscheidung mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Tilgungsabrede zwischen Klägerin und HZA vom 2. August 1979 die Einziehung der Säumniszuschläge unbillig machen. Sie hat das mit der Begründung verneint, das HZA habe allein nach § 258 AO 1977 auf Vollstreckungsmaßnahmen bis zu den in der Tilgungsabrede genannten Terminen verzichtet, die Fälligkeit der Steuerforderung aber nicht hinausgeschoben; da die Verwirkung der Säumniszuschläge bei Vollstreckungsaufschub im ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers liege, könne die Tilgungsabrede, die hier keine selbständige Funktion habe, sondern nur den Rahmen für das Absehen von der Vollstreckung setze, nicht dem Sinn und Zweck des § 240 Abs. 1 und 3 AO 1977 entgegenstehen. Diese Ausführungen der OFD treffen insoweit zu, als nach der AO 1977 der Vollstreckungsaufschub in der Tat nicht ohne weiteres die Fälligkeit der Abgabenforderung berührt. Der Steuerpflichtige erhält also im Regelfall auch kein Leistungsverweigerungsrecht. Damit ist die Entstehung der Säumniszuschläge von Rechts wegen nicht gehindert (vgl. BFHE 143, 512, 515, BStBl II 1985, 489). Es widerspricht daher auch nicht schlechthin den Wertungen des Gesetzes, die während der Einstellung der Zwangsvollstreckung entstandenen Säumniszuschläge einzuziehen (vgl. BFH/NV 1987, 684, 685). Andererseits liegt darin aber auch noch nicht die Entscheidung des Gesetzgebers, daß ein vorläufiger Vollstreckungsverzicht in Verbindung mit einer Tilgungsabrede unter keinen Umständen aus sachlichen Billigkeitsgründen zu einem Erlaß führen können.

Die OFD hat verkannt - und infolgedessen auch keine entsprechenden Ermessenserwägungen angestellt -, daß trotz der genannten Rechtslage im Einzelfall die Erhebung der Säumniszuschläge ihren Sinn verlieren kann, weil die Ausübung des mit ihrer Androhung bezweckten Druckes auf den Steuerschuldner offensichtlich keinen Erfolg (mehr) verspricht. Da Säumniszuschläge und Vollstreckungsverfahren in gleicher Weise der Durchsetzung von rückständigen Steuern dienen, wäre es unbillig, die Zahlung durch Säumniszuschläge zu erzwingen, wenn die Beitreibung wegen Fehlens der Mittel des Steuerpflichtigen ausgesetzt worden ist. In einem derartigen Fall kann nicht erwartet werden, daß der Steuerpflichtige durch die Säumniszuschläge zu höheren Zahlungen angehalten werden kann. Es kann ferner nicht außer acht gelassen werden, daß in der Praxis zuweilen Maßnahmen des Vollstreckungsaufschubs statt nicht durchgeführter, aber möglich gewesener Maßnahmen wie Erlaß oder Stundung eingesetzt werden, so daß es einer gesonderten Prüfung der bei Steuerfälligkeit und Gewährung des Vollstreckungsaufschubs bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen im Hinblick auf eine mögliche Erlaßsituation bedarf (vgl. auch BFH/NV 1987, 684, 685; BFH/NV 1987, 555, 557).

Das angefochtene Urteil und die genannten Verwaltungsentscheidungen waren daher aufzuheben. Dem HZA wird damit die nochmalige Entscheidung über den Erlaßantrag ermöglicht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415756

BFH/NV 1989, 71

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