Leitsatz (amtlich)

Ist ein Steuerpflichtiger trotz Überschreitens der für den Eintritt in den Ruhestand normalerweise geltenden Altersgrenze mangels ausreichender Altersversorgung noch zu einer Erwerbstätigkeit gezwungen, so kann ein Erlaß von Steuern aus Billigkeitsgründen geboten sein, um dem Steuerpflichtigen nicht die erforderlichen Mittel für zukunftssichernde Maßnahmen, insbesondere zum Abschluß einer Rentenversicherung gegen Einmalprämie, zu entziehen.

 

Orientierungssatz

1. Bestandskräftige Steuerfestsetzungen können im Billigkeitsverfahren nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. BFH-Urteil vom 30.4.1981 VI R 169/78).

2. Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Die wirtschaftliche Existenz ist gefährdet, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt (Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, sonst erforderliche Ausgaben des täglichen Lebens, Unterhaltsleistungen für die mit dem Steuerpflichtigen in Hausgemeinschaft lebenden Angehörigen, soweit Unterhaltspflicht besteht) vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann. Sind die Steuern bereits entrichtet, kommt es für die Billigkeitsprüfung auf die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Entrichtung der Steuern an.

 

Normenkette

AO 1977 § 227 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), der im Jahre 1904 geboren wurde, ist als Rechtsanwalt in einer Anwaltssozietät tätig. Infolge eines Augenleidens ist er in seiner Berufsausübung erheblich beeinträchtigt. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit hat ab 1978 laut Bescheiden des Versorgungsamts 60 v.H. betragen. Seine anteiligen Einkünfte aus der Sozietät betrugen 1979 40 402 DM. Die Ehefrau des Klägers, die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), die im Jahre 1903 geboren wurde, ist in der Anwaltssozietät als Buchhalterin nichtselbständig tätig; ihre Einnahmen aus dieser Tätigkeit beliefen sich ab 1979 auf rund 15 000 DM im Jahr. Die Kläger bezogen außerdem Renteneinkünfte von jährlich 1 980 DM.

Im Haushalt der Kläger wird eine Tochter, die infolge einer schweren Sprachstörung nur gelegentlich ein Arbeitseinkommen hat, mitversorgt.

Die Kläger bewohnen ein ihnen gehörendes Einfamilienhaus, das auf einer Grundfläche von 1 077 qm im Jahre 1956 gebaut wurde und dessen Verkehrswert vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) auf 300 000 DM geschätzt wird. Das Grundstück ist mit Grundpfandrechten belastet; der Schuldenstand betrug am 31.Dezember 1979 106 823,84 DM und am 16.Juni 1980 84 243,58 DM. Dem Kläger stehen außerdem Anwartschaften aus Lebens- und Unfallversicherungsverträgen --in nicht näher festgestellter Höhe-- zu.

Das FA veranlagte die Kläger für die Jahre 1975, 1976 und 1977 zur Einkommensteuer. Dabei ergingen die Bescheide für 1975 und 1976 zunächst unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs.1 der Abgabenordnung --AO 1977--); sie wurden später durch Bescheide vom 5.Februar 1979 geändert. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 1977 wich das FA von der Steuererklärung der Kläger ab (Bescheid vom 17.Mai 1979). Die gegen die Bescheide vom 5.Februar 1979 und 17.Mai 1979 erhobenen Einsprüche verwarf das FA wegen verspäteter Einspruchseinlegung als unzulässig. Hiergegen wurde keine Klage erhoben.

Die aufgrund der Bescheide vom 5.Februar 1979 und 17.Mai 1979 festgesetzten Nachzahlungen (1975: 3 736 DM; 1976: 2 995 DM) und die Abschlußzahlung (1977: 7 085 DM) sowie die hierauf entfallenden Stundungszinsen in Höhe von insgesamt 338 DM wurden von den Klägern am 12.November 1979 entrichtet.

Mit Schreiben vom 30.Mai 1980 beantragten die Kläger beim FA, den von ihnen entrichteten Betrag von 14 154 DM im Erlaßwege zu erstatten, da er nur durch Aufnahme eines Bankkredits habe aufgebracht werden können. Darüber hinaus bestünden noch erhebliche weitere Bankschulden. Der Kläger habe trotz bescheidener Lebensführung keine Rücklagen bilden können. Deshalb könne er auch trotz seines hohen Alters und seines Augenleidens seine Berufstätigkeit nicht aufgeben. Außer einer monatlichen Rente von 165 DM sei keine Altersversorgung vorhanden.

Das FA lehnte den Erlaßantrag durch Bescheid vom 6.August 1980 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wurde von der Oberfinanzdirektion (OFD) durch Beschwerdeentscheidung vom 13.April 1981 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die OFD u.a. aus, für die erlaßweise Erstattung von bereits gezahlten Steuerbeträgen sei darauf abzustellen, ob die Zahlung im Zeitpunkt ihrer Entrichtung unzumutbar gewesen sei, weil hierdurch die Existenz des Steuerpflichtigen in Frage gestellt werde. Derartige Umstände lägen im Streitfall nicht vor.

Auch die --gegen die Beschwerdeentscheidung gerichtete-- Klage wurde abgewiesen. Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) aus, für einen Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit lägen keine Gründe vor. Auch die Voraussetzungen für einen Erlaß wegen persönlicher Unbilligkeit seien nicht gegeben. Persönliche Unbilligkeit liege vor, wenn durch die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet werde. Bei einem Erstattungsfall sei dabei auf die persönlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer abzustellen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24.September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127, 130). Die wirtschaftliche Existenz sei gefährdet, wenn ohne Billigkeitsmaßnahme der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden könne. Dabei spiele auch die Vermögenslage des Steuerpflichtigen eine maßgebliche Rolle. Der Steuerpflichtige müsse zur Zahlung seiner Steuerschuld grundsätzlich alle verfügbaren Mittel einsetzen und gegebenenfalls auch die Vermögenssubstanz angreifen. Hiervon gelte eine Ausnahme, wenn die Verwertung der Vermögenssubstanz den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten würde. Dies könne insbesondere bei alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen der Fall sein. Ihnen müsse wenigstens so viel von ihrem Vermögen belassen werden, daß sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können (BFH-Urteil vom 29.April 1981 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726). Im Streitfall sei durch die Entrichtung der von den Klägern geforderten Abgabebeträge eine Existenzgefährdung nicht eingetreten. Aufgrund der im Zeitpunkt der Zahlung gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse sei den Klägern eine Zahlung noch zumutbar gewesen. Die Kläger hätten im Jahr der Entrichtung der Steuern (1979) mit Einkünften in Höhe von 55 900 DM rechnen können. Diese Einkünfte seien, wenn man die Einkünfte in den Vorjahren (1974 bis 1978) und in den Jahren danach (1980 bis 1981) in Betracht ziehe, nachhaltig erzielbar gewesen. Den Klägern sei nach ihren eigenen Angaben --nach Abzug der Einkommensteuer, Schuldzinsen, Versicherungsbeiträgen (einschließlich Krankenversicherung), Hausunkosten u.ä.-- zum Leben noch ein monatlicher Betrag von 2 200 DM verblieben. Hiervon hätten drei Personen die notwendigen Lebenshaltungskosten (bei gegebener Mietfreiheit) bestreiten können. Zudem sei noch ein Vermögenswert in Gestalt des Einfamilienhauses vorhanden. Bei einem vom FA auf 300 000 DM geschätzten Vermögenswert und nach Abzug der Bankschulden und der streitbefangenen Steuerbeträge bleibe immer noch ein verfügbarer Wert von 200 000 DM. Es sei dem Kläger zumutbar gewesen, diesen Wert als Kreditsicherungsmittel zum Zwecke der Zahlung der streitbefangenen Steuerschulden einzusetzen. Zudem müsse berücksichtigt werden, daß der Kläger seit Jahren Prämien für Lebensversicherungen in Höhe von jährlich 4 500 DM und 5 000 DM sowie für Unfallversicherungen in Höhe von 600 DM und 700 DM entrichtet habe, so daß für den Fall des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit allenfalls Vermögen für eine Versorgungsspitze in einem gewissen Umfang einzusetzen wäre, um --beispielsweise gegen Zahlung einer Einmalprämie-- eine den Spitzenbedarf abdeckende Leibrente zu erhalten; das Haus würde dabei weiterhin zur Nutzung zur Verfügung stehen.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung der §§ 76, 96, 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und des § 227 AO 1977.

Die Kläger beantragen, die den Erlaßantrag ablehnende Verfügung des FA vom 6.August 1980, die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 13.April 1981 und das Urteil des FG aufzuheben und das FA zu verpflichten, Einkommensteuer für die Jahre 1975 bis 1977 in Höhe von 13 896 DM und Stundungszinsen in Höhe von 338 DM zu erlassen, hilfsweise, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Nach § 227 Abs.1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (zu denen auch Ansprüche auf Stundungszinsen als steuerliche Nebenleistungen gehören; § 37 Abs.1 i.V.m. § 3 Abs.3 AO 1977) ganz oder teilweise erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Entscheidung über einen Erlaß-(Erstattungs-)Antrag aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603), die im finanzgerichtlichen Verfahren nur dahin überprüft werden kann, ob der auf den Antrag ergangene Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck des Ermessens nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO).

2. Im Streitfall läßt sich auf der Grundlage der vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Ablehnung der von den Klägern begehrten Erstattung ermessensfehlerfrei zustande gekommen ist.

a) Gründe für eine Erstattung aus sachlicher Unbilligkeit liegen nicht vor.

Eine Unbilligkeit in der Sache könnte nach der Rechtsprechung des BFH in Betracht kommen, wenn die Tatsache der Besteuerung als solche, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen unbillig ist (BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726).

Ein Erlaß-(Erstattungs-)Antrag wegen sachlicher Unbilligkeit kann allerdings nicht allein darauf gestützt werden, daß die bestandskräftige Steuerfestsetzung falsch sei. Vielmehr muß erwartet werden, daß ein Steuerpflichtiger sich gegen unrichtige Steuerfestsetzungen im Rahmen der hierfür gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfsverfahren zur Wehr setzt. Der Billigkeitserlaß (bzw. die Billigkeitserstattung) ist grundsätzlich nicht dazu bestimmt, die Folgen schuldhafter Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist auszugleichen (BFH-Urteil vom 30.April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611, m.w.N.). Deshalb wird von der Rechtsprechung des BFH eine sachliche Überprüfung bestandskräftiger Steuerfestsetzungen im Billigkeitsverfahren lediglich dann zugelassen, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611).

Hiernach haben die Voraussetzungen für eine Überprüfung der Steuerbescheide im Billigkeitsverfahren im Streitfall nicht vorgelegen. Wie das FG festgestellt hat, hat der Kläger gegen die von ihm beanstandeten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1975, 1976 und 1977 jeweils verspätet Einspruch eingelegt, ohne daß hinreichende Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO 1977) vorgelegen haben. Die vom Kläger nunmehr im Billigkeitsverfahren gegen die Steuerfestsetzungen vorgebrachten Einwendungen (insbesondere die nach seiner Ansicht unzutreffende Behandlung der beruflich veranlaßten sowie der im Zusammenhang mit seinem Einfamilienhaus stehenden Zinsaufwendungen) könnten hiernach nicht mehr überprüft werden. Es wäre vielmehr Sache des Klägers gewesen, die seiner Auffassung nach unrichtigen Bescheide durch rechtzeitige Einspruchseinlegung, gegebenenfalls auch durch Erhebung einer Klage anzufechten.

Auch das Vertrauen darauf, daß die Finanzbehörden bereit sein werden, im Billigkeitswege etwaige Fehler der Steuerfestsetzung zu korrigieren, kann grundsätzlich im Rahmen eines Billigkeitsverfahrens keine Berücksichtigung finden, es sei denn, das Verhalten der Finanzbehörden hätte ein solches Vertrauen gerechtfertigt. In dieser Hinsicht sind indessen im Streitfall von den Klägern weder vor den Finanzbehörden noch im finanzgerichtlichen Verfahren entsprechende Tatsachen behauptet worden; solche Tatsachen sind auch sonst nicht erkennbar.

b) Ob das FG zu Recht auch das Vorliegen von persönlichen Billigkeitsgründen verneint hat, läßt sich dagegen ohne weitere Sachaufklärung nicht abschließend entscheiden.

Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Die wirtschaftliche Existenz ist gefährdet, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann.

Zum notwendigen Lebensunterhalt gehören die Mittel für Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung und für die sonst erforderlichen Ausgaben des täglichen Lebens.

Auch Unterhaltsleistungen für die mit dem Steuerpflichtigen in Hausgemeinschaft lebenden Angehörigen, soweit sie von ihm unterhalten werden müssen, rechnen dazu; das gilt insbesondere für den Unterhalt von erwachsenen Kindern, die wegen Krankheit nicht in der Lage sind, sich selbst zu unterhalten (BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726).

Für die Frage, ob die Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet ist, spielt außer seinen Einkommensverhältnissen auch seine Vermögenslage eine entscheidende Rolle. Grundsätzlich ist der Steuerpflichtige gehalten, zur Zahlung seiner Steuerschulden alle verfügbaren Mittel einzusetzen und auch seine Vermögenssubstanz anzugreifen. Das gilt allerdings nicht in den Fällen, in denen die Verwertung der Vermögenssubstanz den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten würde. So ist nach der Rechtsprechung des BFH alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen wenigstens so viel von ihrem Vermögen zu belassen, daß sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können (BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726).

Solange ältere Steuerpflichtige dagegen noch in vollem Umfang im Erwerbsleben stehen und hieraus die Mittel für ihren Lebensunterhalt in einem auskömmlichen Umfang beziehen, sind sie grundsätzlich in gleicher Weise wie andere Steuerpflichtige zur Steuer heranzuziehen. Ein Erlaß von Steuern kommt bei ihnen in der Regel nur unter den gleichen Voraussetzungen in Betracht wie bei anderen Erwerbstätigen. Ausnahmen können sich allerdings bei solchen Steuerpflichtigen ergeben, die trotz Überschreitens der für den Eintritt in den Ruhestand normalerweise geltenden Altersgrenze mangels ausreichender Altersversorgung noch zu einer Erwerbstätigkeit gezwungen sind. Diesen Steuerpflichtigen dürfen die Mittel für zukunftssichernde Maßnahmen (z.B. zum Abschluß einer Rentenversicherung gegen Einmalprämie) ebensowenig entzogen werden wie alten nicht mehr erwerbsfähigen Personen. Bei der Höhe der den Steuerpflichtigen zu belassenden Mittel sind auch die mit dem Steuerpflichtigen in Hausgemeinschaft lebenden Angehörigen zu berücksichtigen, soweit sie vermögenslos und wegen Alters oder Krankheit von der Versorgung durch den Steuerpflichtigen abhängig sind. Die Erwägung, daß diese Angehörigen gegebenenfalls Sozialhilfe in Anspruch nehmen könnten, hat in diesem Zusammenhang außer Betracht zu bleiben.

Für den Fall, daß die geschuldeten Steuern bereits entrichtet sind, kommt es für die Billigkeitsprüfung auf die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Entrichtung der Steuern an; für die Erstattung aus persönlichen Billigkeitsgründen ist sonach erforderlich und ausreichend, daß die Einziehung im Zeitpunkt der Zahlung der Steuern unbillig war (Urteil in BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127, 130, m.w.N.).

Da der Kläger seine Einkommensteuerschulden sowie die Stundungszinsen am 12.November 1979 gezahlt hat, waren hiernach für das Vorliegen von Billigkeitsgründen die an diesem Tag vorliegenden Verhältnisse maßgebend. Die Kläger waren zu diesem Zeitpunkt bereits 75 und 76 Jahre alt. Trotz ihres hohen Alters waren sie mangels ausreichender Altersversorgung und im Hinblick darauf, daß sie ihre behinderte Tochter unterhalten mußten, auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen. Angesichts dieser ungewöhnlichen Situation bedurfte es eingehender Prüfung, ob die Zahlung von 14 154 DM, die nur durch Kreditaufnahme finanziert werden konnte, als ernstliche Gefährdung der persönlichen Existenz des Klägers anzusehen war. Das FG hat hierzu festgestellt, daß die Kläger im Jahre 1979 mit laufenden Einkünften in Höhe von 55 900 DM rechnen konnten; hiervon seien ihnen nach Abzug der Einkommensteuerjahresschuld (etwa 5 000 DM), der Kirchensteuer (692 DM), Schuldzinsen (12 411 DM), Versicherungsbeiträgen einschließlich Krankenversicherung (10 758 DM), Hausunkosten u.a. schließlich noch 26 500 DM zum Leben geblieben. Weiter hat das FG ausgeführt, daß die Zahlung des Steuerbetrags nur zu einer vorübergehenden Belastung der Vermögenssubstanz durch Kreditaufnahme geführt habe; im übrigen sei es möglich gewesen, den für eine bescheidene Lebensführung erforderlichen Aufwand im wesentlichen aus den laufenden Einkünften zu bestreiten. Der Kläger könne im Fall der Erwerbsunfähigkeit auf eine private Lebensversicherung zurückgreifen und müßte allenfalls "für eine Versorgungsspitze" in gewissem Umfang Vermögen einsetzen, um --gegen Zahlung einer Einmalprämie-- eine den Spitzenbedarf abdeckende Leibrente zu erhalten.

Diese Erwägungen reichen als Grundlage für eine Ablehnung von Billigkeitsmaßnahmen im Falle des Klägers nicht aus. Der Umstand, daß die Kläger trotz ihres hohen Alters keine ausreichende Altersversorgung hatten und auch für ihre behinderte Tochter keine oder doch jedenfalls keine hinreichende Zukunftssicherung vorhanden war, hätte noch einer näheren Prüfung bedurft. Es fehlen insbesondere noch nähere Feststellungen über den betragsmäßigen Umfang, in dem der Kläger in dem hier maßgebenden Zeitpunkt mit einer Versorgung für sich und seine Angehörigen rechnen konnte, und in welchem Umfang er darüber hinaus noch zusätzlich hätte Vermögen einsetzen müssen, um zu einer den gesamten notwendigen Lebensbedarf deckenden Rente für sich und seine Familie zu kommen. Die insoweit noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen sind im Rahmen der erneuten Verhandlung vor dem FG nachzuholen.

Da das Urteil des FG schon aus den dargelegten Gründen aufzuheben ist, braucht auf die Verfahrensrüge des Klägers nicht mehr eingegangen zu werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61559

BStBl II 1987, 612

BFHE 149, 126

BFHE 1987, 126

BB 1987, 1381

BB 1987, 1381-1381 (S)

DB 1987, 1403-1404 (ST)

DStR 1987, 406-406 (S)

HFR 1987, 339-340 (ST)

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